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«Thomas, Sie haben ja Fieber!«Und ihr Atem streichelte über seine Wange, ihr Duft lag auf seinen Augen, die Weichheit ihres Mohairpullovers.

LEBENSUNTERHALTUNG

«Du bleibst erst mal im Bett«, sagte Marc mit krankenschwesterlicher Strenge, nachdem die Säule des Fieberthermometers, das er nach längerem Suchen im hintersten Dunkel des Arzneischränkchens gefunden hatte, in Toms Mund auf 39,7 Grad Celsius gestiegen war.

Marc kochte Tee. Er saß auf der Bettkante, hörte mit krankenschwesterlicher Geduld die von Alkohol und Fieber verwirrten, sich im Kreis drehenden und umständlichen Erzählungen seines Patienten. Der sagte: Im Wagen, nicht dem großen, sondern dem kleinen Mercedes der Hermanns’, sei er von Dr. Hermanns zum Prenzlauer Berg gefahren worden, weil Anne (er sagte Anne und betonte und genoss es) der Meinung gewesen war, man könne ihn unmöglich in seinem Zustand (der viele Whiskey, das sei unverantwortlich, hatte sie gesagt) allein nach Hause fahren lassen, was eventuell ebenso unverantwortlich gewesen sei, hatte doch ihr Mann, soweit sich Tom erinnerte, kaum weniger getrunken als er selbst. Im Auto habe Tom, wie er im Bett dachte und es Marc erzählte, ununterbrochen darüber nachgedacht, was im Einzelnen im Wohnzimmer geschehen war, als er Annes Handgelenk genommen und ihren Vornamen ausgesprochen hatte. Schon währenddessen, erinnerte er sich, habe er sich überlegt, was eigentlich gegenwärtig geschehe und ob das, was er sich vorstelle, überhaupt geschehe oder nicht oder etwas ganz anderes oder gar nichts, habe er im Auto gedacht. Gleichzeitig, sagte er zu Marc, habe Dr. Hermanns während der Fahrt über die Unterscheidung von Lebensunterhalt und Lebensunterhaltung gesprochen. Seine Kinder nämlich könnten nicht unterscheiden, was mit Lebensunterhalt gemeint sei und was mit Lebensunterhaltung, und sie nähmen das eine für das andere, und tatsächlich meinten sie, mit der Lebensunterhaltung ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, wo die Lebensunterhaltung, ihre sogenannte Kunst, ja doch kalter Kaffee sei! Mehrere Male habe er die Worte» kalter Kaffee «sehr laut gesagt, habe damit Toms Gedanken unterbrochen, die um die Frage gekreist seien, was sich im Wohnzimmer eigentlich ereignet hätte, ob er sie geküsst hatte oder nicht. Einmal denke er: ja, dann wieder denke er: nein, denn er wird ja wohl nicht so bescheuert gewesen sein, Anne Hermanns im Beisein ihres Ehemanns abzuknutschen. Dann wieder denke er: ja, du bist doch so blöd gewesen und hast sie geküsst.

Marc schloss am Fenster den Vorhang und sagte:»Schlaf jetzt, morgen sehen wir weiter. «Und Tom schlief.

Er schlief lange. Am nächsten Tag gegen Mittag, als sich die Tür des Krankenzimmers einen Spaltbreit öffnete und Marcs Kopf erschien, der an diesem Morgen schon mehrmals in dem vom Flur hereinfallenden Lichtkegel nahezu lautlos erschienen und daraus wieder verschwunden war, begann der inzwischen erwachte, inzwischen nüchterne, aber immer noch fiebernde Patient mit heiserer, nach eitriger Mandelentzündung klingender Stimme sofort weitere Versionen des vergangenen Abends zu rekonstruieren, worauf Marc mit krankenschwesterlicher Sorgfalt das Bett frisch bezog,»ah «und» aha «sagend, und eine Kanne Tee und Zwieback brachte, außerdem Halstabletten, Nasentropfen, Orangensaft, Taschentücher und das Küchenradio, die Grundausstattung des Krankseins. Das Zimmer war erfüllt von einer schweren, milchigen Atmosphäre, die sich auch nach dem Aufziehen des Vorhangs, als das graue Tageslicht durch das Fenster hereingeströmt war, kaum verdünnte.

Tom sagte: Im Auto sei auch über die Hunde gesprochen worden. Er sagte: Die Hunde seien eine große Belastung, so Hermanns, eine immer größer werdende Belastung, aber sie seien ja nun einmal da und man könne sie nicht wie ein Klavier in die Ecke stellen, so Hermanns. Marc schüttelte das Kopfkissen auf. Und dass sie sich im Studentenkomitee kennengelernt hätten, ob er sich das vorstellen könne?» Sie waren in der Studentenbewegung!«, sagte Tom heiser, und Marc konnte es sich wirklich nicht vorstellen, gab er zu, während er den Zwieback auf einem Teller zurechtlegte. Aber man höre es ja immer wieder, sagte er, auf der Bettkante sitzend, dass Leute in der Studentenbewegung gewesen seien, die jetzt die Allerschlimmsten sind. Manchmal, so Marc, denke er, die Menschen seien alle gleich. Es gehe ihnen doch immer nur um den eigenen Vorteil, die einen tarnten es nur geschickter als die anderen. Auch die Familien, sagte er. Unter dem Deckmantel der Selbstlosigkeit und der Liebe häuften sie Reichtümer an, die, wie sie vorgäben, ja doch nur für die Kinder seien, die wiederum letztlich nichts anderes seien als die Spiegelungen ihrer selbst, ja sie selbst seien in einer jüngeren, noch reicheren Ausgabe.»Ihre eigene Lebensverlängerung«, sagte Marc und goss Tee ein und reichte ihn Tom.»Eine Lebensaußenstelle«, krächzte Tom und aß einen Zwieback.»Eine Lebensfranchise-Filiale«, sagte Marc und klopfte einen Krümel von der Bettdecke.

Erst einige Tage später, als der Kranke wieder aufstehen durfte, fand er die beiden handgeschriebenen Zettel, die seit jenem Abend in seiner Jackentasche steckten und ohne die, wie er später gelegentlich — meist an endlosen betonfarbigen Sonntagnachmittagen, die nicht vergingen, sondern dastanden in der Form von Blöcken, in die man selber eingegossen war — denken sollte, sein Leben und das einiger anderer Personen wohl erheblich anders verlaufen wäre:

«Suchen Hundeausführer/In für drei liebe Irish Setter in Dahlem, mindestens dreimal pro Woche. Sehr gute Bezahlung!«Der letzte Halbsatz war mit orangefarbenem Marker doppelt unterstrichen, die Telefonnummer, zweifellos diejenige der Hermanns’, stand fünfmal senkrecht zum restlichen Text am unteren Ende des Zettels und war zum Abreißen bestimmt. Tom konnte sich nicht erinnern, was es damit auf sich hatte, träumte aber bereits, während das Fieber schwand, von einer neuen beruflichen Karriere.

DAS MEER DER MÖGLICHKEITEN

Von einem Augenblick zum andern verliebte sich Marc doch in Marietta, die blasse Geigerin. Als der Himmel sich erhob und darunter die noch kahlen Baumwipfel in einem dünnen, zarten Licht standen, als auch die Geräusche, das Vogelgezwitscher, Fahrradgeklingel, Gefahre der Autos, Straßenbahnen und U-Bahnen, heller und filigraner ineinander verdrahtet waren und die Trödler längst wieder ihre karierten Sofas, orangefarbenen Stehlampen, Plastiktischchen, Küchenuhren, gepolsterten Stühle und Spiegelkommoden, großformatigen Gemälde mit röhrenden Hirschen, Engeln oder Heilanden mit sehr roten Wundmalen an den Handflächen in sehr goldenen Rahmen, außerdem Waschschüsseln mit vereinzelten halbhohen Stiefelettenpaaren darin auf die breiten Bürgersteige gestellt hatten, als die Frauenkörper unter dünnerer Kleidung wieder zu erahnen waren und interessierte Blicke von Mensch zu Mensch erneut durch die Straßen segelten und das milde Seidentuch der Luft, kam Marc nicht länger um Marietta herum, wie er sagte.

Auch häuften sich die Probentermine. Die Aufführung im Rahmen der» Tage zeitgenössischer Musik «war für Anfang Juni angesetzt, und Tom konnte vom Flügel aus beobachten, wie Marc seine Konzertmeisterin bewunderte, wie er ihren geneigten Kopf anmutig fand, die Arme, die wegen des Frühlings nackt und blass waren, außerdem zierlich und schlangenhaft, wenn sie Geige und Bogen hielten, wie er all das anziehend und jedenfalls überdurchschnittlich fand. Und eines Morgens saßen sie zu dritt am Frühstückstisch, und es war sogar Kaffee in der Dose. Trotzdem achtete Marc darauf, die Beziehung als lose Freundschaft zu deklarieren, schon wegen des Arbeitsverhältnisses, damit der empfindliche Mikrokosmos des novus ensemble nicht aus dem Gleichgewicht gerate. Sagte er.