Tom aber übte viel auf Marcs Flügel, und je tiefer er in die Windungen und Vernetzungen des Stücks vordrang, desto mehr fühlte er sich darin zu Hause. Sein Ziel war es, auswendig zu spielen, weil ihn Noten auf der Bühne nervös machten. Immer hatte er am liebsten auswendig gespielt, schon als Kind, wenn er, bewundert von gescheitelten, bebrillten, perlenkettenbehängten und parfumumwölkten Eltern (nicht aber den eigenen), in Schulaufführungen Mozart- oder Beethovensonaten zum Besten gegeben hatte, auswendig, und zwar nur weil er es nicht fertiggebracht hatte, Noten zu lesen, wenn es darauf ankam, und er sich daher bereits früh darauf spezialisiert hatte, Stücke zu memorieren, bis er durch ein paar Herbie-Hancock- und Keith-Jarrett-Platten seiner (angeheirateten) Tante Linda den Jazz kennengelernt und erkannt hatte, dass man ruhig falsch spielen konnte, mit oder ohne Noten, wenn man es nur gut genug tarnte.
«Du spielst es wirklich auswendig?«, fragte ihn Marc eines Abends, als Tom im düsteren Wohnzimmer am Flügel saß und sich mit geschlossenen Augen durch den zweiten Satz des Konzerts tastete.
«Du weißt doch, dass ich keine Noten mag«, sagte Tom, ohne aufzuschauen.
Marc hatte sich auf eines der Sesselchen gesetzt und hörte zu. Das Tageslicht war ausgegangen, und von der Straße drangen nur ein paar Laternenstrahlen ins Zimmer, klebten sich an Decke und Wänden fest. Als die Musik in Stille übergegangen war, hörte Tom ein tiefes Atmen Marcs. Sie saßen schweigend. Niemand machte Licht. Nur die Tasten des Klaviers leuchteten unwirklich.
«Was ist?«, fragte Tom ins Dunkle. Marc schwieg.
«Marc?«
«Ja. «Aber dieses Wort war leise, nicht auf große Entfernungen ausgelegt, wie sie in diesem Wohnzimmer herrschten.»Wenn du es spielst«, fuhr er leise fort,»mag ich es sogar.«
«Du sagst das, als hättest du was anderes erwartet«, sagte Tom, der die plötzliche Düsternis mit einem Scherz vertreiben wollte.»Du weißt, dass ich hervorragend bin.«
«Ich weiß, ich weiß«, sagte sein Freund, der in der Ferne des Zimmers nichts war als ein marcförmiger Schatten, der auf einem sesselförmigen Schatten kauerte. Im Innern des Sesselchens aber quietschten die Federn, da Marc seinen Rücken tief in die Lehne presste, als er sagte, dass er nicht wisse und es doch wisse, was los sei, nämlich das Übliche.
«Was?«, fragte Tom.
«Dass ich es zum Kotzen finde. Sobald ich was fertiggemacht habe, finde ich es zum Kotzen. Belanglos, austauschbar.«
Er wisse, dass es das nicht sei, warf Tom ein, wurde aber überhört.
«Alles ist immer nur eine Möglichkeit«, sagte Marc,»eine von Tausenden. Wir können immer genauso gut was ganz anderes machen, Zwölftonmusik oder Schlager oder Schränke oder auch gar nichts, und die Welt würde sich nicht ändern, sondern ganz genau so weitergehen.«
Tom schwieg, lauschte auf das Puckern eines Autos auf dem Kopfsteinpflaster, das unter ihrem Fenster anschwoll und dann verklang.
«Stimmt«, sagte er.»Aber sie wird auch nicht untergehen, egal, was wir anstellen, die Welt wird sich nicht ändern, aber auch nicht untergehen durch uns.«
«Du hast recht«, sagte Marc leise. Das Knarren der Federn im Sessel sprang in die Stille, als er aufstand, um anscheinend ziellos in die Mitte des Zimmers hineinzulaufen, wo er stehen blieb, Hände in den Taschen, so lange, bis sein Freund aus der Küche zwei Bier und Zigaretten geholt und mit Hilfe des Lichtschalters die Dunkelheit vertrieben hatte.
Wie besessen hämmerten sie auf das Klavier ein an diesem Abend, bis tief in die Nacht vierhändig Schlager ihrer Provinzkindheit, die bruchstückhaft, aber immer zahlreicher aus weiter Jugendferne zugiger Pausenhöfe, Plattenpartys, kühler Lagerfeuernächte im Arm weißhäutiger Mädchen herüberzuwehen schienen in die Gegenwart. Auch sangen sie,»du, entschuldige, i kenn di, bist du ned die Kloane«, und» deine blauen Augen, so blaue Augen«, und» manchmal möchte ich schon mit Dir «und» irgendwann bleib i dann dort«, und immer lauter sangen sie und wunderten sich über das eigene Gedächtnis, das weit und wahllos ist wie das Meer und alles Erdenkliche je nach Windrichtung und Wetterlage an den Strand des Bewusstseins spült.
DER HUNDEZETTEL
Erst einige Wochen nach seiner Genesung war Tom dazu gekommen, mit Frau Hermanns die Hintergründe des Hundezettels zu besprechen. Einige Male hatte ihn seine Schülerin bereits an der Haustür mit Küssen und einer erotischen Direktheit überrascht, die nicht im Entferntesten an Klavierunterricht denken und aufgrund des gewohnt raschen Rückzugs von Frau Hermanns hinterher keinerlei Gelegenheit für Unterredungen ließ. Dann war sie im hellen, hohen Licht des Engadin verschwunden, und erst an einem Aprilnachmittag nach Ostern, an dem es leider nicht zum Sex, dafür aber zu einem kleinen Dialog kam, erfuhr er die Wahrheit über den Hundezettel. Frau Hermanns sah erstaunt und etwas besorgt aus ihren Glasmurmelaugen, als er sie dazu befragte, dann aber erinnerte sie sich.»Ach ja, richtig«, sagte sie.»Ihnen ging es nicht gut an dem Abend, Sie hatten Fieber. Da haben Sie das wohl vergessen. Ich denke, mein Mann«, sagte sie, und es war nicht auszumachen, ob da etwas wie Überraschung mit der Tonfarbe der Gleichgültigkeit überdeckt wurde,»mein Mann hat Sie sicherlich gebeten, den Zettel an Ihrer Hochschule aufzuhängen. Sie haben dort doch sicherlich ein Schwarzes Brett oder Ähnliches, nicht?«
Tom nickte zögernd, denn ein Schwarzes Brett hatten sie.»Ich könnte die Hunde doch ausführen«, murmelte er, bereits an der Haustür. Ich könnte gleich damit anfangen, schnell einmal ums Karree, dachte er, und bis ich zurückkäme wärst du eventuell wie ausgewechselt. Küsse im Flur und so fort. Aber sie schüttelte den Kopf, wodurch sie tatsächlich aussah in diesem Moment wie eine Lehrerin.»Das geht auf gar keinen Fall, Herr Holler«, sagte sie. Und sie wolle das nicht vermischen, und Tom fragte sich, was genau sie mit vermischen meinte, aber sie könne ihm, sagte sie, auf gar keinen Fall zumuten, dreimal wöchentlich vom Prenzlauer Berg hierherzufahren, neinneinneinnein. Damit war das Thema erledigt und er draußen. Immerhin meinte er, an jenem Tag verstanden zu haben, was Herr Dr. Hermanns und die Physiker im Allgemeinen mit Überlagerungszuständen meinten: Dass man eine Geliebte hat und gleichzeitig auch wieder nicht.
Die beiden Zettel aber, ohne die, wie er später oft, bevorzugt an betonblockförmigen Sonntagnachmittagen, denken sollte, sein Leben und dasjenige einiger anderer Personen erheblich anders verlaufen wäre, lagen vorerst in seiner Nachttischschublade und wurden manchmal von ihm angesehen. Er nahm sie behutsam heraus, zuerst den einen, dann den anderen, betrachtete sie, fuhr mit dem Finger die Linien der blauen Schrift nach, die feinen Vertiefungen, die die Kugelschreibermine auf dem Papier hinterlassen hatte, und manchmal näherte er sich ihnen mit der Nase, weil er meinte, den Duft eines gewissen Parfums zu erahnen, der allerdings mit der Zeit verblasste.
Natürlich lud er Anne Hermanns zum Konzert ein. Sie aber seufzte, indem sie ihre Brust weit aufblies, ging zur Anrichte hinüber und nahm ein großformatiges, ledergebundenes Notizbuch, in welchem sie eine Zeitlang mit sorgenvoller Miene hin und her blätterte, schüttelte dann den Kopf, seufzte erneut, und sagte:»Ich fürchte, das wird schwierig werden. Das ist ein Freitag, wie ich sehe, da kommen Geschäftsfreunde meines Mannes nach Berlin. «Sie schlug das Buch zu, legte es auf die Anrichte zurück, indem sie einen Moment innehielt, den Kopf senkte, als müsse sie nachdenken oder einen Flecken auf dem Holz begutachten, bevor sie ihn mit einem besonders wirksamen Reinigungsmittel entfernen würde. Dann drehte sie sich um, lächelte und sagte:»Aber ich würde sehr gerne kommen, Thomas, ich will sehen, ob ich da was schieben kann!«
Eingeladen wurde auch Winfried Breitenbach, der im Sommersemester über die Geschichte der Liebe, Teil 2, referierte, indem er seinen Studenten vorführte, wie aus der Innerlichkeit melancholischer Liebe die Mystik wurde. Wie das Ziel dieser Liebe die Liebe selbst war, indem sie wie ein Kreis oder Bumerang immer wieder zu sich selbst zurückkehrte, egal, was ihr in die Quere kam, Gott oder ein Mensch, sagte er. Die Liebe sei absolute Einkehr ins eigene Innere, aber auch Aufbruch zum anderen, Ekstasis, ein Über-Sich-Hinaus des Denkens, behauptete Breitenbach. Er wollte unter allen Umständen beim Konzert erscheinen.