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Dann kam die Stille. Sie strömte von allen Seiten herbei und schloss sich luftdicht um Publikum und Orchester und erstarrte. In Toms Gehörgängen aber rauschte das Blut. Klein und entfernt sah er Marietta, hochaufrecht auf ihrer Stuhlkante sitzend wie das Modell eines Malers. Er sah klein und entfernt, dass dort, wo früher einmal ihr Mund gewesen war, nun eine waagerechte Kerbe verlief, weil die Lippen nach innen gestülpt waren und von den Schneidezähnen zerbissen wurden. Er sah das ganze steife, hoch aufgerichtete Orchester mit leeren Gesichtern. Und erst allmählich begriff er, was er angerichtet hatte. Und er wünschte nichts Geringeres als seinen sofortigen, für alle völlig überraschenden Tod. Er schloss die Augen und senkte das Kinn auf die Brust. Aber er starb nicht. Aber ein einzelnes Klatschen sprang hallend in den Raum, zersprengte die luftdichte Schicht, und ein anderes Klatschen von anderer Seite hatte es nun schon leichter und hüpfte hinterher, bevor weitere folgten, denn was drei gut finden, kann so schlecht nicht sein, und immer lauter und raumgreifender und geschlossener wurde der von den Wänden widerhallende Applaus, in welchem sich vielleicht die gesammelte Langeweile und Ratlosigkeit des Publikums entluden. Vereinzelte Bravo-Rufe sogar, denn eine Zugabe war nicht zu befürchten. Der Klavierspieler aber wünschte sich nur hinaus aus diesem Lärm, aus diesem hell erleuchteten Blickfeld Hunderter fremder Menschen. Er wünschte, dass der Bühnenboden sich auftäte und sich über ihm wieder schlösse, was nicht eintrat. Stattdessen erhob sich Marc in seinem Augenwinkel und lief an der Bühnenkante entlang, die drei abgewetzten Holzstufen hinauf und nickte dem Orchester zu mit bleichem Gesicht, in das aber die Aufregung rote Flecken gebrannt hatte. Das ensemble stand geschlossen und ließ den Applaus über sich hinwegfegen. Tom aber schwankte und griff nach dem Flügel, um sich festzuhalten.

In der Garderobe, von der er gar nicht wusste, wie und wann und wieso er sie erreicht hatte, ließ er sich auf einen Stuhl fallen, tat nichts als zu atmen. Dann aber kamen die Gedanken, einer hinter dem anderen summten sie durch sein Gehirn, unerbittlich dieselbe Richtung einschlagend und unaufhaltsam, unumkehrbar, weil richtig, schossen sie auf ein einziges Ziel zu: Tom Holler hat alles verdorben. Tom Holler hat Marcs Komposition erledigt, hinterrücks liquidiert, indem er sie auf eine Schlagerschnulze hat hinlaufen lassen aus Angst vor der Stille, aus Anbiederung, was noch schlimmer ist, an ein Musical- und Operetten- und bestenfalls noch ein Mozart-Publikum. Immer wieder bedachte er dies in unterschiedlicher Zuspitzung: Die Uraufführung von Marcs Werk hast du erledigt. Das Meisterwerk deines besten und einzigen Freundes hast du in den Dreck gezogen. Den musikalischen Makrokosmos dieses begabten Komponisten hast du kaputtgemacht, hast du zerstört, hingerichtet, in den Erdboden hineingetreten mit deinem Kitsch, dachte er immer wieder, während er auf die beigefarbenen Teppichfliesen hinuntersah, die an den Ecken ein wenig aufstanden. Nicht einmal eine Zigarette wollte er rauchen, als Ulrich ihm eine anbot. So muss sich ein Mörder fühlen, dachte er, als er den Blick hob und sah, wie Marc mit Marietta in der Tür stand, wo eine Notausgangsleuchte über ihren Köpfen brannte und das Viereck mit grünem Licht ausgoss. Eine Komposition umbringen oder einen Menschen umbringen ist dasselbe, dachte er in diesem Moment.

Marietta, viel kleiner als Marc, lehnte ihren Hinterkopf an den braun lackierten Türrahmen, sah scharf an ihrem Freund vorbei in Richtung Flur, in Richtung Bühne, als könnte sie dort noch etwas gutmachen. Dann wurde ihr Blick von einem der Garderobenspiegel aufgefangen und zu Tom getragen. Hastig wandte er die Augen ab, die jetzt wieder die beigefarbenen Teppichfliesen untersuchten. Gewellt waren sie und abgeschabt, mit Kaffeeflecken bedeckt. Wer alles schon darauf gestanden hat, überlegte er. Geiger, Pianisten, Sänger auch und Dirigenten am Anfang ihrer Karriere, bevor sie in die Einsamkeit des Ruhms und der Einzelgarderobe verschwanden. Sie alle hat ein großer Gedanke, eine Liebe oder auch die Gemeinsamkeit verbunden, nichts anderes zu können als: Musik. Du aber, musste er sich sagen, hast darin versagt, hast hier nichts zu suchen.

Wieder schielte er in den Spiegel nahe der Tür, in welchem Mariettas blasser Blick gestanden hatte. Aber nur noch Marc war im Glas von hinten zu sehen, bevor er daraus verschwand und eine blanke Scheibe zurückließ mit dem Türrahmen darin, den Anrichten aus hellem Holz und ein paar dunkleren, matten Stellen, die schon lange nichts mehr spiegelten. Ensemblemitglieder huschten hinein und wieder hinaus, weil sie sich schon auf den Lachenmann vorbereiteten, der nach der Pause folgte. Eine Rauchwolke Ulrichs trieb in Toms Gesichtsfeld und verließ es. Kichern und Geplapper. Schritte näherten sich von hinten, ein Stuhl wurde gerückt. Er spürte einen Druck auf den Schultern, es waren Marcs Hände, die dort lagen und begannen, seinen Oberkörper zu schütteln, bis er sich endlich umwandte und Marc ihn umarmte, ihn an sich presste, worüber Tom staunte, über die harte Kraft, die Enge dieser Umarmung, die ihm die Luft nahm, ihn zu erdrücken schien, und er wollte auch erdrückt werden, und die Stühle kippelten unter ihnen gefährlich.

Als sie, etwas verlegen, nebeneinandersaßen und endlich rauchten, sagte Tom zu Marcs Gesicht im Spiegel, dass er es ihm gleich vorausgesagt habe, dass es vorprogrammiert gewesen sei, dieses Ende, und sofort senkte er die Augen. Er hustete. Dennoch tue es ihm leid, er wisse es nicht, sagte er und hob die Schultern, wie er darauf gekommen sei, und auch Marietta hasse ihn ab sofort, aber jetzt sei es passiert, aber es sei furchtbar.

Marc schwieg und legte seinen langen Arm um ihn. Erst als Tom den Blick wieder in den Spiegel hob, sagt er:»Danke!«

«Quatsch!«, sagte Tom.

«Du hast es herumgedreht«, sagte Marc, und:»So einfach ist es manchmal im Leben und so schön.«

«Du spinnst«, sagte Tom ohne Stimme, nur der Lufthauch war zu hören.

«Genau«, sagte Marc,»du aber auch, und ich weiß ganz genau, wer meine Stücke spielen muss!«

Tom brauchte jetzt dringend ein Bier.

Als sie im Foyer an Stehtischen standen und Bier und Sekt tranken (der für sie umsonst war), begann Tom zu glauben, dass Marc meinte, was er sagte, er wollte es gern, und der Sekt half dabei. Gedankenflügel breiteten sich aus und trugen ihn sirrend in die Höhe, so dass er das langsam sich füllende Foyer aus herausgehobener Position betrachten konnte. War er im Begriff, der Schwerkraft nachzugeben und abzusinken, wurde noch etwas Treibstoff in Form von Sekt nachgeschüttet, und so überblickte er den Saal, immer auf der Suche nach Anne Hermanns, die aber nicht zu finden war. Ausdrücklich hatte er ihr ans Herz, ins Herz hineingelegt, indem er es mit dem Schlüssel seiner Rede kurz geöffnet und dann wieder verschlossen hatte, sie möge unter allen Umständen, diesen drastischen Ausdruck erinnerte er sich gebraucht zu haben, unter allen Umständen möge sie nach dem Konzert ins Foyer kommen, wo es einen kleinen Empfang gebe. Sie war aber nicht da.

«Sie ist nicht da«, sagte er zu Marc.

«Scheiß drauf«, sagte Marc.

Ulrich, der gar nichts von Frau Hermanns wusste, sich die Existenz einer Frau Hermanns gar nicht träumen ließ, schwieg diskret und stieß Rauchkringel aus seinem Mund.

«Ich hab sie doch gesehen«, sagte Tom zu Marc. Der aber hatte sich abgewandt und war zielstrebig in die Menge getaucht, die sich teilte und hinter ihm wieder zusammenschlug. Als er wieder hervortauchte, hatte er eine Frau im Arm. Klein, kleiner als Marc war sie, kleiner auch als Tom und zierlich, mit langem Haar, das ihr bis zu den Hüften hing.

«Mama, das ist Tom!«, sagte Marc stolz, als hätte er ihn sich selbst ausgedacht, und indem er mit dem einen Arm sie, mit dem anderen aber seinen Freund umfasste, sagte er:»Tom, das ist meine Mutter!«