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Es freue sie sehr, Tom, sagte Lisa Baldur. Sie habe schon viel von ihm gehört.

Er auch von ihr, sprach Tom und dachte an die Häschen und Ochsen für die Marktplätze finanzkräftiger Gemeinden, die riesigen Schrotthaufen, die die Bildhauerin in ihrem Garten zu Kunst zusammenbaute, was ihr das kollektive Kopfschütteln des ganzen Dorfes einbrachte. Und dass sie dennoch die Frau Staatsanwalt geblieben war, dass ihr dieser ländliche Titel noch immer anhaftete, weil er weit über das Ableben des Herrn Staatsanwalts hinaus Bestand hatte und daran selbst die Schrotthaufen nichts änderten.

Zierlich war sie, dabei höchst aufrecht, majestätisch fast, und ihre gebräunte Gesichtshaut, die darauf hindeutete, dass sie sich viel im Freien aufhielt, ließ sie trotz der Wetterfalten und der Tatsache, dass ein erwachsener Komponistensohn neben ihr stand, jung erscheinen. Zwischen den übrigen Staatsanwaltsund Ärztegattinnen auf dem Land, dachte Tom, die ihre Tage damit verbrachten, Kinder zum und vom Klavierunterricht hinund zurückzufahren und die Putzfrau beim Reinigen der Innenseiten der Blumenvasen zu beaufsichtigen, musste sie eine atemberaubende Erscheinung darstellen.

Sie möge das Stück, das er gespielt habe, sehr, sagte sie und lächelte.»Wir haben unsere Hochzeitsreise nach Portofino gemacht«, berichtete sie, als wäre sie eben erst zurückgekehrt.

Durch die Menge auf sie zu ruderte Breitenbach, der sich bis dahin alleinstehend an einem der Stehtische aufgehalten hatte. Er trug ein Glas Orangensaft vor sich her wie einen Kerzenleuchter. Ein karierter Wollschal baumelte schief über die Schulter.

Das Glas stellte er auf ihr Tischchen, so schwungvoll, dass ein Teil des Saftes auf die Plastikdecke schwappte, was ihm aber entging, als er seinen Oberkörper straffte und sagte, er wolle nicht stören, wolle sich nur kurz verabschieden. Seine Hände aber schnellten plötzlich nach vorn und packten Marcs Rechte, die er lange und wortlos schüttelte, indem sich sein Gesicht in merkwürdiger Weise verformte, einen Ausdruck annahm, der wacklig zwischen Augen und Mund herumbalancierte, weil offenbar auf schmalem Grat zwischen Glück und Traurigkeit unterwegs, und auch Toms Hand wurde dann ergriffen und lange geschüttelt und abrupt wieder losgelassen, bevor sich der Professor auf die Zehenspitzen erhob und mit dem weißen Zeigefinger unter die Brillengläser fuhr und dabei mehrere Male fest blinzelte.

«Tja«, sprach er und blickte zum Fußboden hinab.»Genau das ist es, nicht wahr? Materie und Geist. Die uralte Frage, die einzige vielleicht von Relevanz, wie verwandelt sich eines in das andere? Wie wird die Materie zu Geist, und wo aber entspringt das andere des Geistes, das Gefühl …?«, fragte er allgemein und blickte jetzt über die Anwesenden hinweg, lächelte dann wehmütig, bevor er im Rezitationston seine Stimme erhob:»Und süß ist der Schiffbruch mir / in diesem Meer, nicht wahr?«Er sah auf Tom wie auf einen Komplizen, mit den riesig schimmernden viereckigen Augen der Brillengläser. Und wieder streckte er die Hände und schüttelte die ihren mit aufeinandergepressten Lippen, so als wollte er noch vieles mehr sagen, verböte es sich aber, und wandte sich ab, um eilig davonzugehen, während der karierte Schal weit über seinen Rücken hinabbaumelte. Marc und Tom sahen ihm noch lange nach.

Viele weitere Hände wurden an diesem Abend von ihnen geschüttelt. Diejenigen eines Stiftungsvorsitzenden, die schmal und gebräunt waren, mit dunkleren Flecken darauf und einem dünnen Eheringchen. Journalistenhände, festere und weichere, deren Besitzer Marc über Alter und Herkunft ausfragten. Weiterhin waren da Hochschulprofessorenhände, deren Eigentümer zumeist sehr leise sprachen, manchmal einen scharf ausrasierten Kinnbart in Schwarz hatten, manchmal einen rostroten Vollbart. Dies war Marcs Kompositionslehrer Duchamps, welcher immer, egal, zu welchem Anlass, eine gesteppte ärmellose Weste trug, als ein Fanal der Überlegenheit Neuer Musik gegenüber den Niederungen der Äußerlichkeit. Tom ließ er links stehen und liegen. Außerdem waren da und kamen und gingen führende Gema-Funktionäre mit ihren hochbeinigen, meist dunkelrot gefärbten Gattinnen, die den rehäugigen Pianisten als den einzigen Lichtblick in diesem freudlosen und definitiv zu langen Konzertabend betrachteten. Eine der Ehefrauen sagte es Marc mit einem perlweißen Strahlen auch mitten in das Gesicht:»Ihr dritter Satz, herrlich!«, und ihr Ehemann lächelte irritiert.

Als Tom sich einmal in Richtung Toilette entfernte, stellte er fest, dass er alleine von niemandem angesprochen wurde, worüber er froh war. Er kehrte also mit seinem Sekt nicht zu Marc zurück, sondern begab sich etwas abseits an einen Stehtisch, an dem bereits Lisa Baldur, Ulrich und der Finne in ein Gespräch vertieft waren. Man sprach über Trolle.

«Die Trolle leben in die Tiefe dem See«, erklärte der Finne.»Sie sind untern Unterbewusstsein. Sie leben in dem See in unteren tiefen Abgründen der Seele. «Frau Baldur nickte. Tom fragte sich, ob es am Alkohol lag oder ob der Finne immer so sprach, mit ausuferndem Mund, der eigenartige Schlangenlinien in seinem Gesicht beschrieb.

«Das ist, was unteren Vorfahren wussten, was war ihr Geheimnis in der Natur und wir haben vergessen. Und sie haben es in das Symbol von der Troll hineingegeben, als ein Wesen, das ist scheinbar von uns außerhalb in die Tiefen vom See. Aber in Wahrheit wussten sie, dass es ist inmitten von uns«, sprach er, und Frau Baldur nickte wieder und wieder und sprach von archetypischen Symbolen, von Märchen und deren psychoanalytischen Deutungen. Jetzt nickte umgekehrt der Finne. Er ist wirklich betrunken, dachte Tom, er ist Finne.

«Das mit dem Schrott, welchen Sie maken«, fuhr der Finne fort,»ist was ähnlich. Vielleicht ist der Schrott das Unterbewusstsein von untere Moderne, und Sie holen es hinauf. «Es heißt» unsere «und» unser«, nicht» unter «wollte Tom sagen, unterließ es aber. Lisa Baldur lächelte und entblößte ihre Zähne, einer der Schneidezähne stand wie bei Marc etwas über.»Besuchen Sie uns einmal«, sagte sie zu Tom, und er wusste nicht, wen genau sie mit» uns «meinte, ihren Schrott oder ihren toten Ehemann. Später am Abend, als sie mehrfach mit dem Finnen Brüderschaft getrunken hatten, sagte sie:»Ich bin froh, dass Marc so einen Freund hat, Tom«, und der staunte, denn zum ersten Mal sah er es so herum.

Zwei Tage später brachte sie die Kritiken. Eine Windböe des Stolzes, auf der sie unterwegs war, ließ ihr langes Leinenkleid erzittern, während sie mit einer Brötchentüte und den Zeitungen unterm Arm im Flur in der Knaackstraße stand. Im Haar trug sie ein breites türkisfarbenes Stirnband, das Marc scherzend als Eso-Kitsch bezeichnete. In der Küche wurde alles auf den Tisch gebreitet. In einer der drei Tageszeitungen fand sich nur eine kurze Notiz über die Preisträger, aber in den beiden anderen waren jeweils ausführliche Artikel über das Konzert im Feuilleton platziert. Tom wurde zum Vorlesen verurteilt, während Lisa neben ihm saß, jedes Wort mitverfolgend, und Marc mit übertriebenem Desinteresse Kaffee aufsetzte. Beide Besprechungen von» Troll «und» Hitting the wall «zeigten sich wohlwollend und überschaubar, aber Marcs Stück waren sowohl in dem einen als auch in dem anderen Blatt etwa doppelt so viele Zeilen gewidmet. Tom hoffte inständig, dass der dritte Satz nicht erwähnt würde, vergeblich. Die Rezensenten waren sich zunächst darin einig, dass Baldurs Komposition von einer expressiven Kraft sei, welche in der» oft allzu akademisch klingenden «Neuen Musik, die, von der Seriellen Musik inspiriert, sich vor allem an ihrer Funktions- und Abbildlosigkeit abarbeite, bisweilen aber zum reinen Formwillen ohne Ausdruckskraft gerate, höchst selten und dabei äußerst mutig zu nennen sei. Dabei sei sie keineswegs reaktionär oder anbiedernd, etwa durch die Wiederaufnahme spätromantischer Harmonik oder Anleihen an die filmmusikalische Tradition, sondern müsse als eigenständig und heutig bezeichnet werden. Auch wurde von einem der Rezensenten der Humor gelobt, der im Singen, Ächzen und Kichern der lebendig gewordenen Haushaltsgeräte aufscheine, eine ironische Leichtigkeit, die sich über die expressive Düsternis des Werks, gleichsam mit einem Augenzwinkern, erhebe. Ganz davon getragen, so sah es der Rezensent, sei der abschließende letzte Satz, der einen italienischen Jazzstandard der fünfziger Jahre (Fred Buscaglione) nicht etwa nur zitiere, sondern ihn in gesamter Länge, vollkommen bruchlos, wiedergebe. Ein Verfahren, das zweifellos in der jüngeren Geschichte der Neuen Musik gängig sei, sich aber für gewöhnlich innerhalb des Genres der sogenannten E-Musik bewege, also eher Mozart-, Mahler- oder Bruckner-Fragmente verarbeite und diese, anders als bei Baldur, als Zitate in gebrochener, bruchstückhafter Form kenntlich mache. Die Idealität des langsamen, harmonisch fast naiven Swingtitels» I found my love in Portofino«, übrigens» sehr gefühlvoll interpretiert von Thomas Holler am Klavier«, sei ein Tabubruch und bringe mit großer Konsequenz eine unleugbare Kraft der Musik zur Sprache: die unmittelbare Überredungskunst des einfachen Tons.