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Tom atmete auf und wurde von Lisa Baldur am Arm berührt, von Marc am Kopfhaar, das daraufhin durcheinanderlag.

Ganz anderer Meinung aber war hier der zweite Rezensent. Seiner Ansicht nach zerstöre das allzu oberflächlich gedachte, gewollt Naive des letzten Satzes die komplexe Struktur des Werks, ja es komme einer Denunziation des eigenen Schaffens gleich, was allerdings wiederum nicht uninteressant sei. Festzuhalten blieb seiner Meinung nach das unleugbare Talent Baldurs, von dem man, wenn es ihm gelänge, die vordergründige Ironie (vgl. dritter Satz) auszumerzen, durchaus Ernstzunehmendes erwarten dürfe.

Am folgenden Donnerstag war Tom froh, dass bei Frau Hermanns nicht der schlechte, sondern der gute Artikel fein säuberlich ausgeschnitten auf dem Flügel lag. Stolz hob sie ihn auf und wedelte damit vor Toms Nase herum, indem sie den Kopf neigte und ihren Lehrer aus schrägstehenden Aug en anlächelte. Sie zitierte den Satz mit der» gefühlvollen Interpretation «durch Thomas Holler.

Sie sprach:»Stellen Sie sich vor: Ich hatte gestern eine Einladung, und da habe ich das hier vorgezeigt und gesagt: Das ist mein Klavierlehrer. «Und mein Liebhaber, ergänzte Tom innerlich, während er mit den Gedanken eine Stelle an ihrem Hals berührte, die anschwoll, wenn sie lachte oder andere Emotionen zeigte.

«Warum sind Sie nicht beim Empfang gewesen?«, fragte er.

Frau Hermanns schob ihre Stirn in Falten, hörte aber nicht auf zu lächeln.

«Nach dem Konzert«, ergänzte Tom.»Ich dachte …, ich habe gewartet, dass Sie noch kommen und ein Glas Sekt trinken.«

Schnell senkte sie den Kopf. Das Lächeln verlor sich.»Es tut mir leid, ich habe es nicht geschafft. Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass wir übers Wochenende Besuch erwarten würden, und ich konnte mich nicht freimachen.«

«Aber …«Ich habe dich gesehen, wollte er sagen. Stattdessen schluckte er diesen Satz hinunter und spülte mit Bio-Apfelsaft nach. In dieser Klavierstunde lobte er kein einziges Mal. Obwohl sie geübt hatte und vorbildlich spielte, fand er tausend Dinge, die er kritisieren musste, ihre Handhaltung, die Geläufigkeit, den Ausdruck, die Aufteilung der Stimmen. Zum ersten Mal war er wütend auf sie, weil sie nicht gekommen war oder weil sie ihn gewohnheitsmäßig anlog oder beides. Vor Wut wollte er seinen Fuß in den Fußboden hinein- und hindurchstampfen, bis in den Keller hinunter, wo die Weinsammlung ihres Gatten lagerte. Stattdessen aber tippte dieser Fuß, von Anne Hermanns unbemerkt, mit der Spitze nur fein immer wieder auf das Eichenparkett, was ein wiederkehrendes klickendes Geräusch hervorrief, wie das Ticken einer Uhr, die verloren oder verlegt und unbeachtet in der dunklen Unordnung einer Schublade sinnlos vor sich hin läuft.

Am nächsten Tag, immer noch wütend, hängte er den Hundezettel am Schwarzen Brett auf.

DIE FREUNDSCHAFTSGALAXIE

Marc und Tom hatten außer Marc und Tom noch weitere Freunde. Sie hießen Ulli Zadera, der Haare hatte wie eine Teufelskappe, oder Manuel Sánchez, ein Spanier mit Fagott, der, wie er zu sagen pflegte, bei der größten Coverband aller Zeiten, den Berliner Philharmonikern, aushalf, oder Andreas Markwart, Violine, Helge Baum aus Norddeutschland, der Kunst studierte und über ihnen wohnte, oder sie hießen Bernhard Gerstenhauer (Kulturwissenschaftsstudent und Schriftsteller) oder Toni Ballweg (Flötist und Schwabe, bei dem man, wenn er sprach, meinte, dass er gurgelte). Frauen waren kaum darunter. Frauen waren höchstens Freundinnen von dem oder von dem, die wechselten und dabei waren oder auch nicht, zum Beispiel Julia Döpfner, die mit Manuel liiert war und meistens Haarspangen mit kleinen Schmetterlingen trug. Oder Tini Bisping, die Helge-Baum-Freundin, die ebenfalls Kunst studierte und kleinformatige Kästen aus Pappmaché bastelte, in denen sie Szenen aus dem Dritten Reich und dem aktuellen Fernsehprogramm nachstellte.

Diese Freunde kamen und gingen. Sie riefen an oder nicht an. In Toms Wahrnehmung waren sie eine Zugabe, periphere Himmelskörper im Planetensystem, das sich aus seiner Perspektive um ihr Zweigestirn, Marc und Tom, drehte.

Die Freunde sprachen von ihnen als Marc und Tom. Ein feststehender Begriff.»Kommen Marc und Tom auch?«, sagte man, oder:»Was machen Marc und Tom?«Und wenn man einen von beiden allein antraf, fragte man diesen» wo ist Marc «oder» wo ist Tom«, denn sie schienen zusammenzugehören wie Licht und Schatten, wie Tom und Jerry, wie die beiden Seiten einer Parabel.

Am schönsten waren die Abende, an denen gar nichts passierte. Wenn sie auf den durchhängenden Sesselchen im großen Wohnzimmer saßen oder in der unaufgeräumten, spärlich beleuchteten Küche und rauchten und redeten. Sie redeten meistens, was beide erstaunte, denn es war eigenartig, dass man so viel zu reden hatte, wo man sich jeden Tag sah und nichts Besonderes passierte. Sie schwiegen aber auch viel und sahen dann versonnen, jeder für sich, in eine der Zimmerecken, bliesen Zigarettenrauchkringel in den Raum, die zur rissigen Decke aufstiegen. Oder sie hörten Musik. Ganze Nächte. Es gab einander abwechselnde Phasen, in denen sie eine fast hysterische Begeisterung für einen bestimmten Komponisten teilten und alles hörten, was von ihm zu hören war; Schubert etwa. Sie analysierten die Liederzyklen, die Heine-Vertonungen, die Streichquartette, um dann nächtelang die Köpfe im Takt von Buscaglione-Songs zu wiegen. Direkt im Anschluss gab es eine Palestrina-Phase, in der ihnen diese Musik als das Reinste und Erhabenste erschien, was von einem Menschen je erdacht worden war. Eine Musik, von der Marc behauptete, dass sie immer schon da gewesen sei, Palestrina habe sie nur aufgeschrieben.

Und dann die Tage, an denen gar nichts passierte, Samstage oder Sonntage oder auch ein gewöhnlicher Mittwoch, an denen sie einfach hinausgingen, die hohe Wohnungstür hinter sich schlossen, durch das Treppenhaus voller Pisse-Geruch entlang am Stuck und den abgeblätterten Pastellfarben durch dunkle modrige Kühle hinabliefen, an den verbeulten Briefkästen vorbei, und dann, während Marc eine Melodie pfiff, die schwere, immer nur angelehnte Haustür öffneten und über die Helligkeit staunten, die vor ihnen stand und blendete. Dann geschah es, dass sie einen Weg nach links oder rechts einschlugen und durch die Stadt wanderten wie Fremde. Trotz der ursprünglichen Absicht, nur um den Block zu gehen oder ein Eis zu essen, fanden sie sich Stunden später in Zehlendorf, in Hohenschönhausen oder am Wannsee, übernachteten wiederholt irgendwo in Brandenburg, einmal in Frankfurt (Oder) und einmal in Stettin/Polen, wo sie, ganz ohne Gepäck unterwegs, aufgrund ihrer mehr als dürftigen Polnischkenntnisse ernstliche Schwierigkeiten hatten, eine Zahnbürste zu kaufen.

Es gab aber auch Zeiten, in denen sie sich seltener sahen. Weil Tom Proben hatte, weil Marc Proben hatte oder sonstige Termine, weil sie beide unterrichteten, den einen oder anderen Nebenjob ausübten, denn die Musik war ihnen Lebensunterhaltung, nicht aber Lebensunterhalt. In diesen Phasen schrieben sie einander Zettel, es sei zum Beispiel übrigens kein Klopapier da oder man trage sich mit dem Gedanken, am Abend Spaghetti zu kochen, Informationen, die man zunächst auf kleinen, neben Brötchenresten und ungespülten Tassen auf dem Küchentisch herumliegenden Einkaufsquittungen vermerkte, später auf eigens aus Notizblöcken herausgetrennten Blättern. Es entstanden daraus seiten- und tagelange Dialoge:»Warum habe ich, seit wir zusammenwohnen, bloß immer einzelne Socken???? — Tom. «Marc antwortete mit einem längeren Lob der Einsamkeit und fügte an, es ergehe ja ihm nicht anders. Tom erbat auf dem nächsten Zettel einen Übergabetermin für in Geiselhaft gehaltene Socken.»Ich schlage vor, wir treffen uns morgen, halb acht Uhr abends in meinem Zimmer und tauschen die fremden Socken aus. — Tom.«