Marc, der über einen etwas größeren Ordnungssinn verfügte, kaufte irgendwann ein Büchlein, das von da an auf dem Küchentisch lag und in dem man neueste Nachrichten verfassen und lesen konnte.»Der Kaffee ist schon wieder alle. — Tom.«
«Der Kaffee bemisst die Zeit, wir sollten Strichlisten anlegen, dann könnten wir später sagen, das oder das sei zur Zeit unseres zweiundfünfzigsten Kaffeepäckchens gewesen. — Marc.«
«Ich habe gelesen: Es gibt Menschen, die heben sowas auf, die sammeln Kaffeeverpackungen, alle Kaffeeverpackungen, die sie in ihrem Leben je ausgetrunken haben. — Tom, PS: Marietta hat angerufen (gezeichnetes Herz), bitte zurückrufen! (Tom hatte unter das Herz noch eine vor einer Telefonzelle wartende Marietta gezeichnet, denn es erschien ihm skandalös, dass sie, die wie fast alle im Osten, kein Telefon hatte, womöglich nicht einmal zurückgerufen wurde vom privilegierten Telefonbesitzer.)
«Ich wusste gar nicht, dass du so schön zeichnen kannst«, schrieb dieser zurück. Und:»Gibt es auch Menschen, die ihre Freundinnen aufheben?? — Marc.«
«Harem nennt man das. Der Harem ist die absolute Gegenwart. Da gilt keine Zeit, und die abgelegten Freundinnen verschwinden nicht im Schacht der Erinnerung, sondern sie bleiben einfach da, horizontal aufgereiht, eine neben der anderen. — Tom. PS: Und Haremsbetreiber sind unsterblich.«
«Niemand stirbt. Höchstens die anderen. Wir selber existieren nur als Lebende, alles andere kann uns egal sein. Vergiss nicht die Party bei Helge heute Abend!! — M.«
«Wir müssen die Telefonrechnung bezahlen!!! Die haben schon wieder geschrieben, dass sie uns die Leitung abstellen! — T.«
«Brauchen wir ein Telefon? Schweigen wir! Suchen wir die Stille, lieber Tom. Übrigens, lieber Tom, gibt es ungefähr vier oder fünf verschiedene Arten der Stille. Eine Schlafesstille der Unwissenheit, wie sie Säuglinge produzieren, wenn sie, satt und zufrieden, für einen Moment Ruhe geben und ihre wulstigen Ärmchen in die Luft strecken. Eine dunkelheitere Stille der Transzendenz, die, wie ich annehme, auf Bergspaziergängen an der Baumgrenze vorkommt, ein hoher Raum, der so geräuschlos ist, dass man die eigenen Gedanken hören kann. Des Weiteren eine dialektische Stille der Musik, die immer dann eintritt, wenn sie benötigt wird, partiturtechnisch, damit die Fülle des Klangs sich auf ihr niederlassen kann. Und eine vierte, die Grabesstille der Einsamkeit (höchst produktiv). Dann die Stille zwischen zwei Sekunden … Wir sollten das verdammte Telefon abmelden!!! — M.«
«Marietta hat angerufen!!! ZURÜCKRUFEN!!! (Herz mit Pfeil durch) — T.«
«Ich ruf sie an, ich ruf sie nicht an usf. Es gibt immer tausend Möglichkeiten, von allem. Jede Note, die ich auf mein Papier schreibe, steht nur deswegen auf dem Papier, weil ich sie zufällig dorthin geschrieben habe. Jede andere könnte dort stehen. Denke ich manchmal. — M.«
«Dann liebst du nicht. Wenn man liebt, dann gibt es nur EINE Möglichkeit! — T.«
«Du solltest dich beim ZDF als Romanzendichter bewerben! PS: Ich wollte dich fragen: Willst du mit mir eine Band gründen??? — M.«
Tom antwortete mit einer kleinen Komposition, einem geshuffleten Swing-Stückchen in Moll, das eine halbe Seite füllte. Unter den Notenzeilen stand dieser Text:»/:Yes I want to play music with You/Yes, I want to play music with You/Yes, I want to play music with You:/.«
Als Schlagzeuger fragten sie Ulli, der sich kurz Zeit ließ, um eine Zigarette anzuzünden und mit einer langsamen Schüttelbewegung seiner rechten Hand das Streichholz auszulöschen, bevor er zusagte. Sie probten in einer kleinen Fabriketage in der Schönhauser Allee, die sie sich mit ein paar anderen Bands für 200 DM monatlich teilten. Oft saßen sie lange auf den abgeschabten Sofas herum, während der Kaffee durch die Maschine stotterte, das rote Abendlicht vor den hohen Fenstern hinabsank und Dunkelheit daließ. Dann irgendwann stand Ulli auf und schraubte, die Zigarette im Mundwinkel, sein Schlagzeug zusammen. Tom und Marc verkabelten und mikrofonierten die Instrumente. Das waren: ein altes Klavier, das im Probenraum stand, und Marcs Kontrabass, außerdem diverse kleinere Kuriositäten, die sie nach und nach mitbrachten: eine Kindertrompete, ein Glockenspiel, auf dem das G und das H fehlten, eine Kinderukulele, eine Maultrommel, ein Plastikkeyboard vom Flohmarkt, außerdem verschiedene Spieluhren. Später kamen Sampler hinzu, mit denen sie die quäkenden Töne der Plastikinstrumente während des Spielens loopten, mit anderen Sounds überlagerten und zusammenschichteten. Außerdem experimentierten sie mit elektronischen Beats, die Ulli über ein Schlagzeug-Pad auslöste, und mit allerlei neuen Perkussionsmitteln wie ausgebauten Computerfestplatten, die einen überraschenden Snare-Klang hervorbrachten, mit verschiedenen Tellern, die in Halbtönen ansteigende Glockenlaute produzierten. Oft wurde es hell vor den Fenstern, wenn sie aufhörten.»Musik ist die beste Möglichkeit, Zeit totzuschlagen«, sagte Marc kopfschüttelnd.
«Das hast du schon mal gesagt«, sagte Tom.
«Und ich werde es wieder sagen«, sagte Marc.
Sie improvisierten nicht nur, sondern adaptierten auch Kompositionen von Marc. Zu jener Zeit waren das vollkommen ungegenständliche Werke, Streichquartette zumeist, von denen Marc neuerdings mit leuchtenden Augen behauptete, sie seien die reinste Art der Klangerzeugung. Die vier Stimmen seien überschaubar und klar, Archetypen des musikalischen Kosmos und dem menschlichen Gesang am nächsten. Alles andere sei Firlefanz, sagte er. Er schien absichtlich etwas ganz anderes zu machen, nachdem seine erste Uraufführung von der Kritik mit Lob überhäuft worden war. Man hatte seine Anschaulichkeit hervorgehoben, nun schuf er völlig abstrakte Tongebilde, die sich in bestimmten formalen Konzepten ergingen und deren einzelne Sätze entsprechend» die Spirale«,»das Dreieck«,»der Kreis «hießen. Trotzdem wurde Marc im Herbst ein einjähriges Komponistenstipendium vom Berliner Senat zugesprochen.»Einmal in der Fördermühle, immer in der Fördermühle«, sagte Marc,»da schafft man es nicht mehr raus. «Und es sei ja leider so, fuhr er fort, dass, wenn man einmal irgendwo drinnen, zugehörig sei, man nur noch von dort wieder hinaus möchte. Das, was er niemals gewollt habe, was er geglaubt habe, mit der Musik umgehen zu können, nämlich den Zustand, irgendwo drinnen zu sein, das trete nun doch ein. Ob man nämlich, sagte er, jeden Morgen in einen Schreinerbetrieb hineingehen müsse oder in den sogenannten Musikbetrieb, das sei ja letztlich gleich und gleich furchtbar.
In der Stipendienzeit aber war der Kühlschrank immer voll. Statt Spaghetti mit Tomatensoße gab es Spaghetti mit Krabben oder Fleisch, statt des Viala tranken sie dunkelroten Chianti, sie mieteten den Probenraum in der Schönhauser für einen weiteren Tag in der Woche, und Marcs finanzschwache Schüler im Wedding zahlten fast nichts mehr für ihren Klavierunterricht.
Marietta kam seltener, rief aber umso öfter an. Als er sie eines Sommermorgens in der noch dämmrigen Küche antraf, bemerkte Tom, dass sie hübsch war. Man musste nur sehr genau hinsehen, um es zu erkennen, was daran liegen mochte, dass alles an ihr etwas kleiner war. Sie saß alleine am Küchentisch, hatte die Ellbogen aufgestützt, und ihr Kinn ruhte in beiden Händen. Die Lider gesenkt wie im Schlaf. Als sie ihn kommen hörte, hob sie den Kopf und verschränkte schnell die Arme vor der Brust, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Sie lächelte ein wackliges Lächeln, dann blinzelte sie, räusperte sich und wandte den Kopf ruckartig zum Fenster, worin das graue Viereck des Hinterhofs stand und darüber ein ebenso grauer Streifen des Himmels.