Und das war es im Wesentlichen mit biographischen Eckdaten: Geburt, Klavier, Schule, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder (noch nicht eingetreten), Tod (noch nicht eingetreten). Alle Begebenheiten, die im Nachhinein hätten als Entscheidungen deklariert werden können, waren im Grunde Zufälle oder Notlösungen gewesen, um nicht zu verzweifeln, um nicht zu sterben, um nicht in Hessen bleiben zu müssen. Die wichtigen Dinge aber, dachte er, sie kommen nicht in Biographien vor, sie hängen zwischen den Zeilen.
Holler saß an seinem Flügel und starrte ins Glas, dessen Inhalt inzwischen milchig war, nahezu undurchsichtig. Er wollte es in die Hand nehmen und auch wieder nicht. Er hatte plötzlich den Eindruck, noch manches überdenken zu müssen und dass es so schlimm gar nicht sei, hier in der warmen aufgeräumten Wohnung zu sitzen, während vor den Fenstern trübnasses Wetter die kahlen Baumwipfel bewegte, seinen sich verzweigenden, von ihm fortfließenden Gedanken zu folgen in der Langsamkeit des Nachmittags. Mit einem Mal erschien ihm diese Tageszeit, leere, dehnbare Stunden, die von ihm bis vor einigen Wochen möglichst durch Arbeit oder andere Zerstreuung überdeckt worden waren, wenn auch nicht gerade angenehm, so doch als ein tiefer, nahezu wahrhaftiger Zustand.
Er streckte die Hand aus und drehte das Glas langsam um die eigene Achse, wie man einen Kristall bewegt, um Veränderungen der Lichtreflexionen zu bewirken. Er überlegte, ob er nicht irgendetwas vergessen hatte, ob er nicht doch das Bad …?
Er stand auf, die Hände in den Taschen, Zigarette im Mundwinkel. Er lief in die Küche, er lief ins Badezimmer, ohne sich entschließen zu können, betrachtete flüchtig sein von weißen Flecken und Spritzern bedecktes Spiegelbild, das zu putzen er aber keine Lust hatte, ging zurück ins Arbeitszimmer und setzte sich wieder vor das Glas hin und begann es vorsichtig zu drehen, so dass ein Streifen Helligkeit darüberglitt, als das Telefon klingelte. Dreimal klingelte es, und er erwartete das vierte Klingeln, dann die Stimme seiner Ehefrau, die er noch immer nicht vom Anrufbeantworter gelöscht hatte, stattdessen aber folgte schrilles Piepsen, das in die Stille schnitt, dann das Rattern und Ächzen des Druckers, der, seit Hedda ihre Kommode mitgenommen hatte, auf dem Fußboden stand. Ohne die Hand vom Glas zu nehmen, beobachtete er, wie das Papier aus dem weißen Plastikgehäuse herausstotterte und direkt neben dem Flügel liegen blieb.
Faxe waren selten. Er wartete ab, legte seine Hände übereinander in den Schoß, als hätten sie soeben eine Etüde beendet. Das mit schwarzen Tintenstreifen verschmierte Papier erinnerte an einen Zeitungsausschnitt, er beugte sich nach vorn, mit schmalen Augen, und sah, dass es ein Artikel aus der italienischen» Repubblica «war, überschrieben mit:»Il Quartetto mare — Worldjazz in Italia. «Darunter befand sich eine handschriftliche Notiz, die offensichtlich von seinem Agenten Jens-Christian Hepp dorthin gesetzt worden war.»Na, was sagst du??«oder» Na, was lagst du??«, was weniger Sinn ergab, und» Ruf mich bitte endlich zurück!«, zweimal unterstrichen. Holler erhob sich zögernd von seinem Klavierhocker, bückte sich und griff nach dem Papier.
Sie spielten in Italien. Es war ihm noch nie passiert, dass er einen Auftritt vergessen hatte. Es war erstaunlich und nicht lustig, und doch musste er lachen. Es war ein glucksendes Auflachen, das seine Schultern schüttelte, und er erschrak über das laute Geräusch, das aus ihm selbst kam. Aber er begann, es wirklich lustig zu finden: Er stellte sich ihre Gesichter vor, wenn er nicht käme, die Gesichter der Veranstalter, die Gesichter der Kollegen. Didis Wut vor allem, die er hinter einer gespielten Trauer würde verbergen müssen, was ihm schlecht gelänge. Warum ausgerechnet jetzt? würde er sich fragen, warum jetzt, wo nach Italien gefahren wird? Hätte er es nicht um drei Wochen verschieben können? Hätte er nicht wenigstens Bescheid geben können?
Aber das konnte er ja wirklich nicht.
Es wurde ihm bewusst, dass er absolut frei war. Frei vielleicht wie nie, aber gleichzeitig fiel ihm auf, dass diese Freiheit, die in Form des Wasserglases vor ihm dastand, sich selbst schon wieder zu einer Art von Zwang einzudicken begann. Er hätte nicht sagen können, wann er die Entscheidung getroffen hatte (er, der nie eine getroffen hatte), ein Wasserglas mit aufgelösten Medikamenten vor sich auf seinen Flügel zu stellen, und letztlich handelte es sich wohl auch hier nicht um eine solche, sondern eher um die Anwesenheit gewisser Gedanken, die sich mehr und mehr zu einer Art Nebel verdichtet hatten. Nebel aber, bedachte er jetzt, konnte sich auch wieder auflösen.
Er zündete sich eine Zigarette an. All das hatte nichts mit ihm zu tun. Das Glas nicht, das Zimmer nicht, der Zeitungsartikel nicht.
Stumm blickte er auf das Foto hinab, und erstaunt, wie sich ein für Fasching geschminktes Kind im Spiegel das erste Mal betrachten mag, sah er sich selbst im schwarzen Hemd am Flügel sitzen, sah Didi mit blitzendem Saxofon unter dem Arm, Franz, den Hals des Kontrabasses mit ausgestreckter Hand haltend, und hinten, etwas verschwommen, Ulrich am Schlagzeug. Die Aufnahme war offensichtlich bei einem Konzert entstanden. Sie lachten. Ihre Blicke kreuzten sich, spannten ein Netz durch den Raum, im Moment vor dem großen Schlussapplaus. Irgendjemand hatte einen Witz gemacht (vielleicht Didi, vielleicht sogar er selbst), und dann schickten sie sich an, aufzustehen, sich bei den Händen zu halten, den Applaus entgegenzunehmen, wie es hieß. Er selbst hatte den Oberkörper vorgebeugt, den Kopf schräg angehoben. So sah er zu Diedrich hinüber, der in der Mitte stand, lachend. Ein Bild aus glücklichen Tagen, was waren wir glücklich, was war ich glücklich, sollte man denken. Aber der grinsende Tintenfleck auf dem Faxpapier, unterschrieben mit» Tom Holler, Pianoforte«, hatte definitiv nichts mit ihm zu tun.
Wie grauenhaft Fotografien sind, dachte er. Sieht man gut aus auf ihnen, trauert man den alten Zeiten nach, sieht man schlecht aus, ärgert man sich auch. Dann, ohne Übergang, dachte er: Die Fenster sind dreckig, wenigstens scheint keine Sonne. Und: Das Bad ist ein Müllhaufen. Ich sollte noch die Heizung ausstellen. Gleichzeitig oder um einen Sekundensplitter versetzt, dachte er, wie wohl das Wetter wäre in Italien, und ausgerechnet Italien, und seine Gedanken vervielfältigten sich, kreisten, bildeten unzählige kleine Wirbel in seinem Kopf, bis bald nur noch ein einziger weiß stäubender, riesiger Strudel übrig blieb, der alle übrigen Gedanken aufzusaugen schien und ein gleichmäßiges tosendes Geräusch zwischen seinen (etwas abstehenden) Ohren erzeugte. So saß er einige Minuten. An alles gleichzeitig oder an nichts denkend.
Als das Rauschen zwischen seinen Ohren leiser wurde, hörte er das dünne Pfeifen eines Vogels. Er sah zum Fenster. Davor stand das Glas. Die weiße Farbe hatte begonnen, sich am Boden abzusetzen. Er dachte an Latte macchiato. Schiefe Cafétischchen in der Knaackstraße, in der Sonne spiegelnd. Und unter dem Glas die schimmernde Oberfläche des Flügels. Der schwarze Lack war dünn an einigen Stellen, durchschienen vom Braun des Holzes, und mit kleinen Kratzern übersät. Dieser Flügel hat schon viele Personen überlebt, dachte er, und wird auch mich überleben, so oder so. Vorsichtig klappte er den Deckel auf, der Geruch des alten Holzes strömte ins Zimmer.»Vielleicht schenke ich ihn dir mal«, hatte Marc am Tag eins ihrer Freundschaft gesagt, und Holler fragte sich wie so oft, ob er nicht doch alles von Anfang an geplant hatte.