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Er hielt die gespreizten Finger über die mattweißen, schwach geäderten Tasten, aber er spielte nicht. Er sah Landstraßenfluchten unter staubigem Licht. Morgenaufgang über Berufsverkehr in sommerlicher Stadt, zwei Fußgänger mit Nacht in den Gesichtern, Zigarettenrauchnebel, der langsam in einem Raum herabsank. Die Rillen der Wohnzimmertapete in der Düsternis eines Abends. Ein durchgesessenes rotes Sofa, von Zeitungen bedeckt, bernsteinfarbene Augen. Als das Klingeln an seinem Ohr lauter wurde, wie ein erstes Geräusch, das in den Raum des Schlafs eindringt, wusste er nicht, seit wann er schon auf seinem Klavierschemel saß. Vor dem Fenster, stellte er fest, war noch Helligkeit, die flach und bleiern über der Stadt lag.

Es klingelte schrill und fordernd. Holler dachte kurz, sein Tag habe sich verhakt, spränge zurück wie die Nadel auf der Plattenrille, und das italienische Fax käme noch einmal. Tatsächlich aber klingelte das Telefon öfter jetzt, bevor sich der Anrufbeantworter mit Heddas Stimme meldete,»Thomas Holler und Hedda Groning-Holler, bitte das Übliche«. Dann der lange Signalton. Und eine Frauenstimme. Eine Frauenstimme, die aufrecht und schlank und nah und doch körperlos in der Wohnung stand. Die sich räusperte, dann wieder eine Pause ließ mit Atmen, als hätte sie es sich anders überlegt.»Hallo, … hallo Tom. Hier ist Betty. Betty Morgenthal. «Pause. Dann ging die Stimme leichter, stieg zwei Halbtöne nach oben:»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass ihr in Neapel spielt. Ich würde gerne zum Konzert kommen. Vielleicht können wir ja danach was trinken gehen. Du, du kannst mich anrufen, wenn du willst. Meine Nummer ist …«Und eine Handy-Nummer.»Ciao «sagte sie, dann noch einmal,»ciao«, und sie legte den Hörer auf, dort in Italien, wo sie wohnte. Es rumpelte in der Leitung. Kurzes Tuten, vier-, fünfmal, und Stille.

Holler saß hochaufrecht und bewegte sich nicht, vielleicht aus Angst, durch die geringste Veränderung seiner Körperhaltung das Gewesene zu verscheuchen. Betty Morgenthal. Sie hatte tatsächlich ihren Nachnamen hinzugefügt. Als könne er sich ohne diesen Zusatz nicht erinnern. Betty, die du einmal gekannt hast, an die du dich eventuell nicht mehr erinnern kannst, Betty, die folgenden Nachnamen trägt, als wüsste sie nicht, dass dieser Name mit winzigen Buchstaben in die Zwischenzeilen seines Lebenslaufs graviert war. Betty, an deren Augen du eben gedacht hast.

Wieder entfuhr ihm ein Laut, schüttelte seinen Oberkörper, ein Ton zwischen Auflachen und Schluchzen, als er das Gesicht in die Handflächen grub, seine Stirn auf das Holz des Flügels sinken ließ. Und immer wieder dachte er einen einzigen Gedanken, nämlich dass das Leben aber wirklich komisch sein kann. Das Leben ist echt die allerkomischste Angelegenheit auf der ganzen Welt, dachte er, während das Glas, das er eigentlich schon zu vergessen begonnen hatte, durch eine vielleicht unbedachte, vielleicht gezielte Bewegung seines Ellbogens hinabstürzte und auf den Dielen zersprang.

TOM HOLLER

In Neapel war das große Licht ausgegangen.

Betty hatte sich, um allein zu sein, nach Feierabend von der trägen Menschenströmung hinunter zum Lungomare treiben lassen, war erst über die Kaimauer und später, um die Einsamkeit der Menschenansammlung mit der Meereinsamkeit zu tauschen, über die riesigen Bruchsteine gegangen und hatte sich nah ans Wasser gesetzt.

Als sie auf die dunkle Fläche hinaussah, ohne eine Horizontlinie ausmachen zu können, erschien es ihr absurd, dass sie ausgerechnet heute hatte Schumann hören müssen, wo man sonst mit Vorliebe italienische Arien, Puccini, Verdi, Bellini aus den hohen Fenstern des Konservatoriums hinaussang. Andererseits wusste sie, dass das Schicksal nichts ausrechnet, weil das Schicksal gar nicht rechnen kann und es nur der Mensch ist, der rechnet, weil er die Unordnung nicht erträgt und deshalb im Nachhinein alles zurechtsortiert, in eine scheinbare Logik bringt, indem er die Ereignisse in der großen Schachtel der Erinnerung sammelt und später auf eine Kette fädelt, anordnet wie der Juwelier die Perlen. Die Erinnerungsperlen. Auf dem Modeschmuckcollier des Lebens.

Sie wusste, dass der Schumann nichts mit Tom zu tun hatte. Sie war es, die ihn in eine direkte Verbindung zu ihm fädelte, weil sie den Zufall nicht ertragen konnte, weil der Mensch bestrebt war, Zeichen und Symbole und Ordnung in alles hineinzulesen, in die Sterne, ins Meer, in schwarze Katzen von links oder grüne Autos von rechts und auch in Erinnerungsglasperlen.

Sie wünschte sich eine Zigarette, wie sie sich schon lange keine mehr gewünscht hatte. Hinter ihr wogte der Verkehrslärm, vor ihr lag ruhig das Meer. Autoabgase mischten sich mit dem Salzgeruch, müde Wellen klatschten zu ihren Füßen. Ein paar Angler, schwarze Schatten am Ufer, hypnotisierten das Wasser, aber rechter Hand, auf Santa Lucia, waren bereits die Fäden der Leuchtgirlanden aufgehängt, für die wenigen Touristen, die auch in der Februarkälte draußen saßen, Cappuccino oder Rotwein trinkend, pensionierte Lehrerehepaare aus Schwaben mit großen Fotoapparaten oder winzigen Digitalkameras.

Betty beneidete sie, ohne zu wissen, warum. Zwar hätte sie eigentlich kein pensioniertes Lehrerehepaar sein wollen, aber dennoch beneidete sie es, wie es auf Santa Lucia saß und sich die Hand hielt und auch ein wenig fror und /oder auch ein wenig stritt. Sie beneidete es, weil sie im Augenblick fast alle beneidete, die nicht sie selbst waren.

Ein Wind flog übers Meer. Ein Anruf, dachte sie, oder auch nicht. Oder auch sitzen bleiben, dachte sie, hier auf diesem quadratischen Stein und versteinern und ihn nicht anrufen müssen, niemanden mehr anrufen müssen.

Weil sie aber zu frieren begann, stand sie auf und wanderte ein langes Stück auf der Kaimauer dahin. Draußen über dem Meer fraßen sich Sterne in die Nacht. Das Himmelsschwarz glich dort einem durchlöcherten Bühnenvorhang, von tausend Schweinwerfern hinterleuchtet. Der Autolärm bot eine vertraute Spur, der sie folgte. Kurz vor dem Castel Nuovo, am neuen Hafen, überquerte sie das Lungomare, tauchte wieder in die Menschenbrandung ein und unter und ließ sich in der Via Roma in eine kleine Bar spülen, wo sie Grappa und Espresso und abschließend einen Averna und noch einen Averna bestellte. Auch kaufte sie Zigaretten, die sie vor der Türe stehend rauchte, und sie legte den Kopf in den Nacken und suchte die Sterne.

Erst als sie die Haustür aufschloss, fielen ihr Alfredo und die Lasagne ein. Leise trat sie in den Flur, hängte ihren Mantel an einen provisorischen Kleiderhaken (einen Nagel, der schief in der Wand steckte). Stimmen und Gelächter drangen aus der Küche. Sie blieb stehen und horchte: Alfredo hatte offenbar Freunde eingeladen, Sergio und Paola, die seit Jahren, eigentlich seit ihrer Heirat, damit beschäftigt waren, ihre Eheprobleme zu lösen. Wahrscheinlich hatten sie eine Zeitlang gewartet, es schade gefunden, dass sie nicht kam, hatten dann aber gegessen, Wein getrunken und sich einen schönen Abend gemacht.

Sie stand im Flur und wusste nicht wohin mit sich. Sicher konnte sie nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben, aber in die Küche wollte sie nicht, denn sie hatte keine Lust auf einen schönen Abend und noch weniger Lust auf Eheprobleme. Die Küchentür quietschte, öffnete sich, unterbrach ihre Überlegungen und entließ einen schmalen Lichtschein, der auf den Flur hinaus direkt auf ihre Füße fiel. Ins Licht hinein trat Alfredo.

«Hast du mich erschreckt!«Er steckte einen Hemdzipfel in seinen Hosenbund.

Sie schwieg. Dann sagte sie ein Hallo.

Wo sie denn um Himmels willen, sagte er, gewesen sei, er habe sie jetzt, in diesem Moment, zum ungefähr zwanzigsten Mal anrufen wollen, was sie jedoch für übertrieben hielt. Ihr Handy sei ausgestellt, erklärte sie ruhig, nicht aber entschuldigend.