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Er zieht seine Hände von den Tasten zurück, als hätte er sich die Finger verbrannt, schließt die Klappe, die hart auf dem Holz aufschlägt. Es ist ihm peinlich, er ist sich selbst peinlich, wie er am Flügel sitzt, nicht heulend, aber doch aus irgendeinem Grund mit tränenüberströmtem Gesicht, durchnässtem Hemdkragen, aber erleichtert, und doch in der Verpflichtung zu putzen, nach wie vor.

Er hat dieses Lied mit Betty Morgenthal gespielt.»Stille Tränen «für hohe Stimme und Klavierbegleitung, er weiß es wieder, er hat es die ganze Zeit gewusst, hatte es nur zu gut versteckt in seinem Gedächtnis, wie jenen kreisrunden grünen Edelstein, den er als Kind bei einem verregneten Sommerurlaub am Strand gefunden und Jahre später nach seinem Umzug nach Berlin auf dem Unterboden des Klaviers zufällig wiederentdeckt hatte, worauf er erkannte, dass der Stein keineswegs wertvoll, sondern ein von Meeresbrandung abgeschliffenes Stück Flaschenglas war.

Das Lied hat er in den Händen. Betty Morgenthal in seinem Kopf.

Sie steht jetzt darin im beigefarbenen Schlaf-T-Shirt. Lehnt im Türrahmen, ein Bein angewinkelt am Türstock, Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Haar, vom Schlaf zerzaust. Kennermiene mit leicht geschürztem Mund, gehobenen Brauen, Blickrichtung auf die vergilbten Rillen der Wohnzimmertapete, in denen sich die Musik zu fangen scheint. So steht sie und verfolgt jede einzelne Note der Klavierexposition, die er sehr leise spielt, weil es frühmorgens ist und er Betty und Marc nicht wecken möchte. Es ist Sonntag. Berliner Winter vor dem Fenster, ein weißer Himmel wie heute, der pergamentartig bis auf die Konturen der Häuser hinabhängt, und seine Hände, erinnert er sich, sind gefroren, rot, tauen nur langsam auf, während er spielt und Betty ins Zimmer tritt und ihr Sopran sich in die Musik schleicht, kaum hörbar zunächst, vorsichtig, als klopfe sie an. Und dann hebt ein Kran oder Ähnliches sie langsam bis zu jenem traurigsten Höhepunkt, jenem endlosen Seufzer, auf den das ganze Lied hin steigt, während es gleichzeitig, wie gespiegelt, in immer tiefere Dunkelheit sinkt.»In stillen Nächten weinet /oft mancher aus dem Schmerz /und morgens dann ihr meinet /stets fröhlich sei sein Herz.«

Erst später bemerken sie, dass Marc in der Tür lehnt. Auch er im Schlafanzug, im Schlaf-T-Shirt (ein Volksbühnen-Pulli, mit dem runden Logo des Theaters). Er hat zugehört, lächelnd, versunken, den Blick irgendwo am Fußboden vergessen.

Auch Hollers Blick liegt jetzt am Fußboden, auf den Glasscherben. Berlin heute, nicht 1995. Aber was genau, denkt er, sind Jahreszahlen, woraus sind sie gemacht? Er wüsste nicht, dass sich diese rund zwölf, dreizehn Jahre irgendwo befänden, dass er auf sie deuten und sie wie verstaubte Bücher aus einem Regal herausziehen und auf einem Bibliothekstisch ausbreiten könnte. Stattdessen sieht er das zerbrochene Glas auf den Holzdielen: Das ist die Gegenwart, denkt er. Ein Glas, das zerbrochen ist, ist zerbrochen, zum Beweis dafür, dass die Ereignisse der Vergangenheit nicht rückgängig gemacht werden können. Oder doch?

Er steht auf, holt Lappen, Schaufel und Besen, er kehrt die Scherben aufs Blech. Aus dem Küchenschrank nimmt er ein neues, sauberes, intaktes Glas, füllt Whiskey hinein, trinkt und wartet, bis die goldene Flüssigkeit ein Flämmchen in seinem Körper anzündet. Mit dem dritten Schluck fällt ihm der Abschiedsbrief ein.

DAS NEUE LEBEN

Keineswegs brach jetzt Licht durch das kahle Geäst der Bäume, sondern es war immer noch kalt, und alles lag konserviert in einem trüben, einfarbigen, geleeartigen Himmel, der auch die Räume zwischen den Häusern bis hinab auf die Straßen auszufüllen und selbst das Strömen der Passanten und des erleuchteten Verkehrs in der Bewegung festzubannen schien.

Als Tom Holler zum zweiten Mal an diesem Tag in der Kastanienallee vor Heddas Haus stand, hatte er plötzlich das Gefühl, gar nicht mehr da zu sein, das Leben einen Augenblick lang von weit oben zu betrachten. So also wird es sein, dachte er und staunte: nämlich wie immer. Aber er ging durch den hohen dunklen Torbogen der Einfahrt ins Innere des Hofes wie in die Gegenwart zurück. Hier roch es nach frischer Farbe und feuchtem Holzlack, denn Heddas neues Leben bekam auch ein neues Gehäuse, neue Hochglanzverpackung, was er ihr gönnte, wenn es auch mit dem Umstand verbunden war, dass alle Fenster der Loftetagen derzeit mit Bauplanen verhüllt waren und auf den gerippeartig hinter den Planen sich abzeichnenden Gerüsten Bauarbeiter gemächlich hin und her gingen. Auch im Treppenhaus, aus dem der Geruch von Lack herauswehte, stand ein Arbeiter, der das Geländer grundierte, die Caprifischer pfeifend. Obwohl er es nicht wollte, pfiff Holler in Gedanken mit. Zum zweiten Mal an diesem Tag stand er vor dem nagelneu glänzenden Hedda-Groning-Briefkasten. Bella bella bella Marie, vergiss mich nie.

Hedda Groning, die ihn sicher bald vergessen würde, was er ihr wünschte, wusste nicht viel über Betty Morgenthal. Fast nichts über sie, dachte er, das Nötigste nur. Dass es B. M. einmal gegeben hatte und vielleicht irgendwo immer noch gab, zwischen den Zeilen seines Lebenslaufs, denn in Lebensläufen kommt es meist nicht vor, dass und wen man einmal geliebt hat. Und auch als sie B. M. gemeinsam fast begegnet wären, hatte er Hedda nichts gesagt, wie hätte er es auch tun können, auf dem Flughafen in Rom, auf ihrer ersten gemeinsamen Italienreise, verspäteten Hochzeitsreise.

Da waren sie, Hedda Groning-Holler und Thomas Holler — (Hedda hatte ihn nie Tom genannt, immer Thomas) —, das gewesen, was landläufig als ein schönes Paar bezeichnet wird. Wenigstens die junge Ehefrau war schön gewesen, was genügen mochte, weil ihre Schönheit den eher unscheinbaren Begleiter, so empfand er sich, wie ein Glanz überströmte und in ein positives Licht setzte — denn irgendetwas musste ja an ihm sein, innere Werte vielleicht, Geld, wie sich Außenstehende angesichts des jungen, glücklichen Paares gedacht haben mochten, das in Rom am Flughafen stand und auf sein Gepäck wartete, das aber nicht kam.

Das ist halt Italien, hatten sie sich gesagt, lachend, er hatte sie auf die Wange geküsst, und in diesem Moment sah er über ihre Schulter hinweg Betty Morgenthal mit einem Rollkoffer vorübergleiten. Das glatte Haar etwas kürzer als früher, aber nach wie vor rostfarben, über den Schultern schnurgerade abgeschnitten, eine schaukelnde Fläche, und das Gesicht, das er von der Seite sah, leuchtete bronzen kurz in der Menge auf.

Was mit ihm sei, fragte Hedda. Ob er eine Heiligenerscheinung gehabt habe, immerhin sei man in Rom, und sie hatte gelacht, weil er offenbar ein blödes Gesicht machte. Aber er, der noch immer in die Richtung starrte, in der Betty mit ihrem Rollkoffer längst in der Menschenmenge aufgegangen war, schüttelte langsam den Kopf und sagte, er habe nur einen Augenblick lang geglaubt, jemanden wiederzuerkennen, aber es könne eigentlich nicht sein. Nein!

Die gesamte erste Woche ihres Urlaubs hatte er darauf verwandt, diese Begegnung aus seinem Gedächtnis zu streichen. Und Hedda, ohne es zu wissen, hatte ihm sieben Jahre lang dabei geholfen.

Jetzt stand er vor ihrem Briefkasten und dachte, dass es ein Leichtes wäre, Gewalt anzuwenden, den Verschlusshaken nach oben zu biegen mit einem Schlüssel, das Problem aber waren die Arbeiter. Pfeifend gingen sie auf der Treppe oder vor dem Eingang im nassen, schmutzigen Hof herum, räumten Gerüstholz auf Stapel, warfen Scharniere auf große Haufen, während das Flatterecho von den Wänden her antwortete, als vervielfältigter metallischer Laut, der hell in den Ohren riss. Er lief wieder in den Hof zurück. Sein Leben war eine in die Vergangenheit gebogene Kreislinie. Heddas Leben eine Gerade, dachte er. Er blieb in der Mitte des Vierecks stehen, zündete sich eine Zigarette an und beschloss zu warten, bis die Arbeiter Feierabend machten. Er war in den letzten Wochen ein großer Wartekünstler geworden.

Ob er ihm sagen könne, wie spät es sei, bitte? fragte er einen offenbar ausländischen Arbeiter mit blauer Wollmütze, der Gerüsteisen sortierte. Der Arbeiter aber arbeitete weiter, als hätte Holler nie etwas gesagt. Als er noch drei Eisen von einem kleineren auf einen größeren Stapel geschmissen hatte, richtete er sich langsam auf, drehte sich halb zu ihm und sagte, erstaunlicherweise ohne vorher auf die Uhr gesehen zu haben: