Выбрать главу

«Ich will auch nicht zurück.«

Tom nickte, ohne etwas zu erwidern, dankbar, dass ihn sein Freund missverstand. Aber es war schon das zweite Mal an diesem Tag, stellte er entsetzt fest, dass ihr Schweigen nicht einem geteilten Gefühl entsprang, für das es vielleicht keine Worte, sondern nur einen Blick aus dem Fenster gab, sondern ein getrenntes Schweigen war, das jeder für sich schwieg. Marc aber drückte seinen Arm:»Gute Nacht, Tom, ich weck dich morgen.«

Als er sich, in der Gewissheit nicht schlafen zu können, ins Bett legte, versuchte er, nachzudenken, eine Strategie zu entwickeln, aber alles, was ihm einfiel, war, dass Liebe ganz gewiss kein Gedanke sei, wie Breitenbach behauptete, sondern im Gegenteil, dass die Liebe jeden Gedanken zerstörte. Die Liebe zerstörte alles. Andererseits, sagte er sich, ist die Liebe schließlich noch immer vergangen, hat noch jedes Mal den Kampf gegen die Zeit verloren. Liebe ist kein Einrichtungsgegenstand, den man zwischen Fenster und Sofa in den Raum hinstellt für die Ewigkeit, sondern Liebe, wie er aus Erfahrung weiß, ist etwas Vorübergehendes, eher eine flüchtige Lichtstimmung, die zufällig in einem Zimmer entsteht, wenn sich das Sonnenuntergangsrot draußen für einen Augenblick so mit einer Lampe oder einer Kerze drinnen vermischt, dass ein unwirkliches Leuchten an Fußboden und Wänden entsteht, bevor es verlischt. Also abwarten! Entweder verlischt die Liebe bei Marc oder bei ihm selbst oder bei beiden, dachte er. Sie vergeht wie eine Krankheit. Liebe ist zwar kein Schnupfen, aber auch kein Krebs, Liebe ist irgendetwas zwischen Schnupfen und Krebs, dachte er und wandte den Blick vom Fußende seines Bettes zum Nachttisch hinüber, wo ein Radiowecker seine grünen Ziffern in die Dunkelheit warf, zwei Uhr morgens.

Beim Einschlafen hatte er Betty unter den Lidern, und ihre Knie öffneten sich wie zufällig unter einem Rock, ihre Schenkel vibrierten durch die Bewegung des Autos. Als er aufwachte, sagte er sich, dass es so schlimm offensichtlich ja nicht sein konnte. Es war 6.58 Uhr. Noch war es still im Haus. Aber ein Hahn krähte irgendwo. Das kleine Zimmer stand jetzt hell, klar und scharfkantig im Tageslicht. Er setzte sich auf, ging zum Fenster, wo tiefblauer Himmel hing, in den der dunkle, lang gestreckte Corvatsch ein Loch riss. Nachdem er sich angezogen hatte, rauchte er seine Morgenzigarette und ging im winzigen Zimmer auf und ab. Er lernte es sehr gut kennen in den folgenden Stunden, dieses schweizerische Alpenzimmer. Holzgeschnitzte Gemütlichkeit mit Corvatsch-Massiv im Bilderrahmen des Fensters. Und die Geräusche lernte er kennen, bald stehend, bald liegend, bald gehend. Die große Stille, wenn auch seine eigenen knarrenden Schritte verstummten, bevor jede Viertelstunde plötzliches, blechernes Läuten der Turmuhr erklang, das den Tag in praktische Viertelstunden-Schnittchen zerteilte. Dann und wann das Rattern eines Traktors, Bellen eines Hundes, und wieder war Stille bis zum nächsten Läuten, bis zur nächsten Viertelstunde, die von nun an zur Vergangenheit zählen würde.

Weil Marc auch um neun noch nicht gekommen war, um ihn zu wecken, beschloss er hinunterzugehen. Zwang sich aber, nicht zu klopfen, nicht stehen zu bleiben, zu lauschen, als er an ihrem Zimmer vorbeikam, trotzdem meinte er, Schweigen zu hören.

In der kleinen Gaststube trank er Kaffee, beäugt von der misstrauischen Hausfrau, die es offenbar mehr als erstaunlich fand, dass es Menschen gab, die allen Ernstes in der Nebensaison wandern mochten. Wohin sie wollten, fragte sie. Er wisse es nicht, sagte er, sein Freund habe die Reiseführer, dazu Wanderkarten. Es liege noch Schnee, sagte sie. Er zuckte mit den Schultern, trank seinen Kaffee. Es liege sogar sehr viel Schnee, sagte sie, stützte ihre Hände auf die Durchreiche, fixierte ihn, als hätte er die Schuld an dem ganzen vielen Schnee. Selbst auf dem Berninapass sei Schnee, und die Corvatsch-Seilbahn habe noch nicht einmal geöffnet, sagte sie und hob die Augenbrauen. Ob sie wenigstens gute Ausrüstung hätten, fragte sie. Tom verneinte. Sie hätten nur Turnschuhe. Sie schüttelte den Kopf, sagte, indem sie ihr Kinn tief auf die Brust hinabdrückte, dass sie da nur die Fahrstraßen gehen könnten, den Talweg um den See beispielsweise.»Sind wir schon«, warf Tom ein, sie aber schloss die Augen, um seine Unterbrechung ausdrücklich zu ignorieren, sprach weiter mit erhobener Stimme, den Talweg also um den Silvaplaner See herum könnten sie gehen oder beispielsweise den Nietzsche-Weg zur letzten Bank oder aber, wenn sie ein Fahrzeug haben —»Sie haben doch ein Fahrzeug?«—, sagte sie, so könnten sie auch den Wanderweg zum Morteratsch-Gletscher gehen oder von Pontresina zum Lej da Vadret ins Roseg-Tal oder aber von Sils Maria ins Fex-Tal, bei allem aber sei ungewiss, ob das Wetter halte.

Schweigend trank er seinen Kaffee, aß eine Scheibe Brot, noch immer beobachtet von der Hausfrau, die inzwischen die Durchreiche mit einem rosafarbenen Lappen wischte. Die laut tickende Wanduhr rechts der Durchreiche zeigte Viertel vor zehn. Dann zehn vor zehn, dann zehn. Dann schlug die Hausfrau das Brett der Durchreiche hinauf, machte aus der Durchreiche einen Durchgang und trat zu ihm an den Tisch, um abzuräumen, denn ab sofort war das Frühstück beendet. Ob sie nicht wenigstens den Kaffee stehen lassen könnte, bat Tom, seine Freunde müssten ja bald kommen.

Marc kam, Betty nicht, um 10.35 Uhr. Der Kaffee war höchstens noch lauwarm. Marcs Gesicht zeigte rote Flecken, seine Augenbrauen waren in ständiger Bewegung, als redeten sie. Natürlich hatten sie miteinander geschlafen, sah Tom, wie sie es schon hundert Mal getan hatten, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, aber plötzlich griff dieses Wissen hart an seine Kehle. Schnell wandte er den Kopf, starrte auf die Uhr, weiße geschnörkelte Ziffern auf dunklem Grund, und mit seinen Gedanken berührte er die Zeiger, drehte und drehte sie, bis diese Wanderung vorbei wäre, diese Heimfahrt, diese Liebe, was auch immer.

Marc setzte sich gar nicht erst hin, sondern trank nur eine Tasse Kaffee in einem Zug, dann noch eine.»Wir müssen los«, sagte er.

«Und Betty?«

«Kopfweh, bleibt lieber hier.«

Vor der Haustür, während Tom über die Bedeutung des Wortes Kopfweh nachdachte, unterhielt sich Marc mit der Wirtin. Er sprach sehr laut, lachte laut, als wäre sie schwerhörig. Tom, der etwas abseits stand, rauchend, schaute die schmale Gasse hinab, dachte Kopfweh, und gleichzeitig, dass ihm dieser ewige Corvatsch, der jede Perspektive abschnitt, schon nach einem Tag auf die Nerven ging. Er hörte, wie Marc lachte, redete wie ein Einheimischer über Berge, Täler, Eisenbahnen, wobei sein Tonfall sogar etwas Schweizerisches annahm, was Tom in diesem Moment peinlich, darüber hinaus anbiedernd, darüber hinaus lächerlich erschien.

Sie fuhren zum Morteratsch-Gletscher. Das hatte Marc in Übereinstimmung mit der Hauswirtin beschlossen. Inzwischen röhrte das Auto auch in der Ebene.»Der Auspuff«, sagte Marc.

«Meinst du?«, sagte Tom.»Ich glaube eher, dass es der Keilriemen ist.«

Marc lachte.»Der Keilriemen«, wiederholte er, als hätte Tom einen wirklich guten Witz gemacht.»Es kommt doch von hinten. Der Keilriemen klingt zudem völlig anders.«

Tom aber beharrte auf dem Keilriemen, auch wenn er insgeheim wusste, dass Marc recht hatte und es natürlich der Auspuff war, weil Marc immer recht hatte in allem und sich neuerdings auch mit Autos auskannte.

Marc pfiff jetzt irgendeine Melodie vor sich hin. Ansonsten fuhren sie schweigend, bis Tom einfiel, dass sie dringlich umkehren sollten, Betty abholen und zurückfahren, heute schon, das Auto in die Werkstatt bringen, den Keilriemen machen lassen, am besten irgendwo in Österreich, weil billiger, und dann nach Hause. Aber Marc schüttelte den Kopf, lachte, wieder zu laut, wie Tom fand, vielleicht, um das Röhren des Autos zu übertönen.»Du willst dich ja nur vorm Wandern drücken«, rief er,»vergiss es!«