Ich kannte einen Menschen in Port Kar, einen Sklavenhändler namens Samos, der ein Agent der Priesterkönige sein sollte.
Ich war nun also im Delta des Vosk und näherte mich der Stadt Port Kar, die als einzige goreanische Stadt Fremde willkommen heißt, wenn auch zumeist nur Ausgestoßene, Mörder, Geächtete, Diebe und sonstiges Gesindel den Schutz ihrer kanaldurchzogenen Schatten suchen. Ich erinnerte mich an Samos, der im Curuleum von Ar in seinem Sessel gelegen hatte, herausfordernd, doch von der Ruhe eines Raubtiers. Über der linken Schulter hatte er nach Sitte seines Volkes die geknoteten Schnüre Port Kars getragen; seine Kleidung war einfach und dunkel gewesen; die zurückgeworfene Kapuze hatte seinen breiten Kopf und das dichte weiße Haar enthüllt; das Gesicht war von Wind und vom Salz gerötet gewesen, runzlig und faltig wie Leder. In den Ohren hatte er goldene Ringe getragen. Ich hatte seine Ausstrahlung von Macht, Erfahrung, Intelligenz und Grausamkeit gespürt. Ich freute mich nicht auf unser Wiedersehen; doch hatte ich aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß er den Priesterkönigen zu dienen verstand.
Es überraschte mich nicht, hier im Delta ein Reptuch vorzufinden, denn die Sümpfe sind bewohnt. Der Mensch hat dieses Gebiet nicht völlig dem Tharlarion, der Ul und dem Sumpfhai überlassen. Fast unsichtbar sind Gemeinden von Rencebauern über das Delta verstreut, die vorwiegend unter der Oberherrschaft von Port Kar ein kärgliches Dasein fristen. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Tuch um eine Wegmarkierung der Sumpfbewohner.
Aus der Rencepflanze wird eine Art Papier gewonnen. Sie hat eine lange dicke Wurzel von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, die sich horizontal unter der Wasseroberfläche erstreckt; kleine Wurzeln erstrecken sich von ihr aus nach unten in den Schlamm, und mehrere »Stiele« – maximal ein Dutzend – steigen bis zu drei oder vier Metern in die Höhe. Die Rencepflanze dient nicht nur als Rohstoff für die Papierherstellung; die Wurzel wird auch als Holz verwendet, in getrocknetem Zustand gibt sie außerdem guten Brennstoff ab, und aus den Stengeln machen die Rencebauern Riedboote, Segel, Matten, Schnüre und auch eine Art Fibertuch; schließlich ist ihr Mark eßbar.
Hauptprodukt ist jedoch das Papier, das auf komplizierte Weise in Handarbeit gewonnen wird und in Rollenform auf den Markt kommt – am östlichen oder am westlichen Rand des Deltas.
Rencepapier ist aber nicht das einzige Papier, das es auf Gor gibt. Ein Leinenpapier wird ebenfalls viel verwendet, das in Papiermühlen bei Ar fast industriemäßig hergestellt wird.
Ich bemerkte nun an einem Rencestengel ein zweites Stück Reptuch, größer als das erste Zeichen. Ich setzte meinen Weg fort. Die Schreie der Marschgänse, eine Art schrilles Pfeifen, wurden häufiger und schienen auch näher zu kommen. Ich blickte mich um, doch der dichte Bewuchs versperrte mir die Sicht, und ich sah keine Vögel.
Ich war nun etwa sechzehn Tage im Delta. Erneut probierte ich das Wasser, und der Salzgeschmack war wieder stärker geworden. Der gewaltige, saubere Duft des Thassa begann sich bemerkbar zu machen. Frohgemut bewegte ich mein Paddel. Meine Wasserflasche war fast leer, die letzte von mehreren Flaschen. Das getrocknete Boskfleisch und das gelbe Sa-Tarna-Brot waren fast aufgegessen.
Plötzlich hielt ich mit Paddeln inne, denn an einer Rencepflanze vor mir leuchtete nun ein rotes Tuch, und ich begriff, daß die beiden weißen Markierungen keine Wegzeichen, sondern Warnsignale gewesen war.
Trotz des Wertes ihrer Produkte und des Schutzes der Marsch, trotz der Rencepflanzen und der Fische, von denen sie leben, haben die Rencebauern kein leichtes Dasein. Sie haben nicht nur die Sumpfhaie und die fleischfressenden Aale zu fürchten, die sich überall im Wasser tummeln, ganz zu schweigen von den anderen Raubtieren des Meeres, sondern müssen sich vor allen Dingen vor den Männern Port Kars in acht nehmen.
Wie schon angedeutet, beansprucht diese Stadt die Oberherrschaft über das Delta. So dringen immer wieder Gruppen von Bewaffneten, Anhänger dieses oder jenes Ubars der Stadt, in das Delta vor, um – wie sie sagen – Steuern einzutreiben. Und wird eine kleine Rencegemeinschaft erst einmal aufgetrieben, fällt die Last schwer aus – große Mengen Rencepapier werden mitgenommen, Söhne werden zum Ruderdienst auf den Galeeren gepreßt, und Töchter werden zu Vergnügungssklavinnen für die Tavernen der Stadt bestimmt.
Ich starrte das rote Tuch an. Der Stoff hatte die Farbe von Blut – das ließ keine Zweifel aufkommen. Ich durfte nicht weiterpaddeln. Doch ich führte mein kleines, leichtes Boot an dem Zeichen vorbei. Ich mußte nach Port Kar.
Die Schreie der Marschgänse folgten mir.
2
Durch eine Lücke in den Binsen sah ich das Mädchen, etwa fünfzig Meter entfernt. Fast im gleichen Augenblick blickte sie auf und entdeckte mich.
Sie stand in einem kleinen Renceboot, kaum größer als mein Fahrzeug, das etwa zwei Meter lang und sechzig Zentimeter breit war. In ihrer Hand ruhte ein krummer Wurfstock, mit dem die Rencebauern Vögel jagen.
Ich steuerte mein kleines Boot auf sie zu und ließ es schließlich treiben. Sie hatte offenbar erfolgreich gejagt, denn vier tote Vögel lagen zu ihren Füßen.
Sie sah mich ruhig an.
Ihr Blick war klar; sie hatte dunkelblondes Haar und blaue Augen; ihre Beine waren ein wenig kurz und ziemlich stämmig, ihre Schultern vielleicht ein wenig zu breit, aber sie war ausgesprochen hübsch. Sie trug ein kurzes, ärmelloses Kleidungsstück aus gelbbraunem Rencetuch. Das Haar wurde hinter dem Kopf von einem purpurnen Reptuch zusammengehalten – ein Zeichen, daß ihre Gruppe direkt oder indirekt Kontakt mit zivilisierten Goreanern hatten, denn Reptuch wurde in dieser Gegend nicht hergestellt, schon gar nicht hier im Delta. Das Mädchen war zweifellos die Tochter eines Rencebauern, und ihre Renceinsel war sicher ganz in der Nähe; sicher stammten die Stoffzeichen von ihrer Gruppe.
Sie stand aufrecht in dem kleinen Boot, wobei sie sich unmerklich bewegte und unbewußt das Gleichgewicht hielt – eine Übung, die mir noch immer schwerfiel. Sie machte keine Anstalten, mich anzugreifen oder zu fliehen, sondern sah mir ruhig entgegen.
»Hab keine Angst«, sagte ich.
»Hast du die Warnzeichen nicht gesehen?« fragte sie.
»Ich habe keine bösen Absichten gegenüber dir und deinem Volk.« Ich lächelte. »Ich beanspruche den Sumpf nur bis zur Breite meines Bootes.« Dies war die Abwandlung eines auf Gor üblichen Grußes, wenn man fremde Gebiete durchreist – nur die Spannbreite der Flügel meines Tarns, nur die Breite meines Tharlarion, je nach Beförderungsmittel.
»Bist du aus Port Kar?« fragte sie.
»Nein.«
»Welches ist deine Stadt?« wollte sie wissen.
Ich trug keine Insignien auf meiner Kleidung, auch nicht auf meinem Helm oder Schild. Meine rote Kriegertunika war ausgebleicht und fleckig.
»Du bist ein Geächteter«, sagte sie. »Wohin willst du?«
»Nach Port Kar«, erwiderte ich.
»Packt ihn!« rief sie.
Sofort ertönte aus allen Richtungen lautes Gebrüll, und Dutzende von Rencebooten tauchten aus dem Schilf, jeweils von einem Mann am Heck gestakt, während ein zweiter am Bug einen dreizackigen Sumpfspeer hob.
Es war sinnlos, mein Schwert zu ziehen oder eine andere Waffe zur Hand zu nehmen; man hätte mich sofort niedergemacht.
Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften, warf den Kopf zurück und lachte triumphierend.
Man nahm mir Waffen und Kleidung. Ich wurde mit dem Gesicht nach unten in das Boot geworfen, die Handgelenke wurden mir auf dem Rücken zusammengebunden, die Fußgelenke ebenso gründlich verschnürt.
Mit leichtem Schritt trat das Mädchen in mein Boot und stellte sich über mich. Jemand reichte ihr die Stange, mit der sie ihr Boot vorangetrieben hatte, das nun an ein anderes gebunden wurde. Mit der Stange begann sie mein Binsenboot durch das Schilf zu staken, gefolgt von mehreren anderen Fahrzeugen. Einmal hielt das Mädchen inne, legte den Kopf zurück und stieß ein seltsames Pfeifen aus – den Ruf der Marschgans. Der Laut wurde sofort von mehreren Seiten erwidert, und kurz darauf schlossen sich weitere Renceboote unserer Gruppe an.