Ich schwieg.
Dann drehte er sich um. »Weißt du, wer der Seniorkapitän im Rate ist?«
»Nein.«
»Ich«, sagte Samos und wandte sich an den Schriftgelehrten neben der Streckbank. »Nehmt die Männer herunter«, sagte er, »und legt sie in Ketten. Vielleicht müssen wir sie morgen weiter befragen.«
»Was hast du mit ihnen vor?« fragte ich.
»Unsere Rundschiffe«, sagte Samos, »brauchen Ruderer.«
Ich nickte. Die Männer sollten also Sklaven werden.
Ich erinnerte mich an den Zettel, den ich erhalten hatte, ehe Henrak in den Ratssaal stürmte und das Feuer meldete. Ich hatte die Nachricht in den Beutel gesteckt, den ich am Gürtel trug.
»Ehrenwerter Samos«, sagte ich, »hast du mir heute früh eine Mitteilung zukommen lassen, daß du mich sprechen wolltest?«
Samos musterte mich prüfend. »Nein«, sagte er.
Ich neigte den Kopf, und der Seniorkapitän verließ den Raum.
»Samos«, erklärte einer der Schreiber in der Nähe, »ist erst heute abend in Port Kar eingelaufen, zur achtzehnten Stunde. Er kommt direkt von Scagnar.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
Wer sollte mir dann einen solchen Zettel schicken? Offenbar gab es andere, die mit mir Kontakt aufnehmen wollten.
Die zwanzigste Stunde war herangerückt.
In dieser Nacht war das Gebäude des Kapitänsrats von Männern umstellt, und in einem Pasang Umkreis waren alle Dächer und Kanalsteige mit Posten besetzt.
In der Halle selbst flackerten Fackeln und viele Dochtlampen. Lysius, Kapitän und Klient des Henrius Sevarius, ging vor dem großen Tisch des Schreibers auf und ab und sprach. Sein Umhang wirbelte hinter ihm, und er trug seinen Helm in der Armbeuge.
»Und so«, sagte Lysius, »biete ich euch allen Amnestie im Namen des Ubar von Port Kar, Henrius Sevarius!«
»Henrius Sevarius, Kapitän«, sagte Samos im Namen des Rats, »ist zu gütig.«
Lysius neigte den Kopf.
»Henrius Sevarius, Kapitän«, sagte Samos bedächtig, »dürfte jedoch feststellen, daß der Rat der Kapitäne weniger großzügig gestimmt ist als er.«
Lysius fuhr auf. »Seine Macht ist größer als die eure!« rief er und deutete auf die Ubars, die, jeder von einer Leibgarde umgeben, ihre Thronsessel eingenommen hatten. »Damit seid auch ihr gemeint!«
Ich musterte die Männer, die den Anspruch stellten, Herrscher über Port Kar zu sein – der gedrungene, schlaue Chung, der schmalgesichtige Taktiker Eteocles, der langhaarige Nigel, der wie ein Kriegsherr von der Insel Torwaldsland aussah – und Sullius Maximus, der angeblich Gedichte schrieb und ein Kenner der Gifte war.
»Wie viele Schiffe hat er denn?« erkundigte sich Samos.
»Einhundertundzwei!« verkündete Lysius stolz.
»Die Kapitäne des Rats«, sagte Samos trocken, »haben in ihren persönlichen Diensten etwa eintausend Schiffe. Außerdem ist der Rat über weitere tausend Schiffe aus der Stadt verfügungsberechtigt – also befehligt der Rat zweitausend Einheiten.«
»Es gibt auch noch viele andere Schiffe!« rief Lysius.
»Du meinst die Flotten von Chung, Eteocles, Nigel und Sullius Maximus?«
Gelächter wurde laut.
»Nein!« rief Lysius. »Ich meine die Schiffe der kleineren Kapitäne – rund zweitausendfünfhundert.«
»In den Straßen habe ich den Ruf ›Der Rat an die Macht!‹ gehört«, bemerkte Samos.
»Wenn Henrius Sevarius zum alleinigen Ubar ausgerufen wird«, sagte Lysius leise, »dürft ihr weiterleben, ihr werdet begnadigt.«
»Das ist ein Angebot?« fragte Samos.
»Ja.«
»Dann höre nun das Verlangen des Rats – daß nämlich Henrius Sevarius und sein Regent Claudius die Waffen niederlegen, sich aller Schiffe und Männer und Besitztümer entledigen und sich in Sklavenfesseln vor dem Rat zur Aburteilung einfinden sollen!«
Lysius, das Gesicht starr vor Wut, die Hand auf den Schwertgriff gelegt, stand stumm vor dem ersten Sklavenhändler der Stadt. »Ich beanspruche die Immunität des Heralds!« rief er.
»Sie sei dir gewährt«, winkte Samos geringschätzig ab.
Mit wehendem Umhang verließ der Abgesandte den Saal.
Samos wandte sich den vier Thronsesseln der Ubars zu. »Meine werten Kapitäne«, sagte er.
»Ubars!« rief Sullius Maximus.
»Ubars«, verbesserte sich Samos und neigte lächelnd den Kopf. »So sei euch gesagt, Ubars, daß Samos, erster Sklavenhändler von Port Kar, nun dem Rat anträgt, er solle die Leitung der Stadt Port Kar in eigene Hände nehmen, mit voller Machtbefugnis, ob in Politik, Gesetzgebung, Ordnungsmacht, Besteuerung oder anderen Dingen.«
»Nein!« riefen die Ubars fast gleichzeitig und sprangen auf.
»Das bedeutete Bürgerkrieg!« brüllte Eteocles.
»Der Rat hat die Macht!« sagte Samos.
»Der Rat hat die Macht!« fielen die Männer auf den Rängen lautstark ein.
Ich saß lächelnd auf meinem Sitz.
»Außerdem schlage ich dem Rat vor zu beschließen, daß alle Bindungen zwischen Klienten und Ubars zu lösen sind, um auf freiwilliger Basis wiederhergestellt zu werden, anhand von Dokumenten, deren Kopien beim Rat zu hinterlegen sind.«
Sullius Maximus schüttelte die Faust. »Du nimmst uns unsere Macht nicht!« brüllte er.
Chung warf sich mit stolzer Geste den Umhang über die Schultern und verließ mit seiner Gefolgschaft den Saal. Mit verächtlichem Schulterzucken strebte auch Nigel dem Ausgang zu.
»Ich bitte nun den Tischschreiber, die Liste der Kapitäne zu verlesen«, sagte Samos.
»Antisthenes!« rief der Mann.
»Antisthenes stimmt den Anträgen zu!« sagte ein Mann in der dritten Reihe.
Mit einem Wutschrei sprang Eteocles auf, zog sein Schwert und hieb die Klinge in den Tisch, nagelte die Papiere des Schreibers auf der Platte fest. »Hier ist die Macht in Port Kar!« rief er.
Langsam zog Samos seine Waffe und legte sie sich über die Knie. »Wenn das so ist. Auch hier ist Macht«, sagte er.
Die anderen Ratsmitglieder taten es ihm nach.
Eteocles blickte in die Runde, zog seine Klinge aus dem Tisch, rammte sie wieder in die Scheide und hastete aus dem Saal.
Mit reglosem Gesicht hatte sich Sullius Maximus erhoben. Ein Mann hinter ihm legte nach seinen Wünschen die Falten seines weiten Umhangs zurecht. Ein zweiter Mann hinter ihm hielt seinen Helm.
»Ich werde ein Gedicht schreiben«, sagte er, »ein Klagelied über den Niedergang der Ubars.« Und er lächelte und ging.
Er, davon war ich überzeugt, war der gefährlichste aller Ubars.
»Bejar!« rief der Schreiber.
»Bejar stimmt den Anträgen zu!« sagte ein Kapitän aus der zweiten Reihe unter mir.
»Bosk!« rief der Schreiber.
»Bosk«, sagte ich, »enthält sich der Stimme.«
Samos und viele andere warfen mir einen überraschten Blick zu.
Ich sah in diesem Augenblick noch keinen Grund, mich dem Programm Samos’ und des Rats zu verpflichten. Es war klar, daß seine Anträge angenommen würden. Außerdem waren sie bestimmt in meinem Interesse. Aber indem ich mich der Stimme enthielt, blieben meine Einstellung und meine Ansichten auf nützliche Weise im Zwielicht – noch war nicht abzusehen, auf welchem Ratsstuhl sich die Tarns der Macht niederlassen würden.
Wie vermutet, wurden Samos’ Anträge mit überwältigender Mehrheit angenommen. Es gab Enthaltungen und auch einige Neinstimmen – wahrscheinlich von Kapitänen, die die Macht des einen oder anderen Ubars fürchteten.
Noch in dieser Nacht wurde die konkrete Arbeit aufgenommen, und schon vor Sonnenaufgang wurden Mauern um den Besitz Henrius Sevarius’ errichtet und seine Hafenanlagen blockiert, während Wachmannschaften die anderen vier Ubars und ihre Festungen im Auge behielten. Mehrere Komitees wurden gebildet, die Studien verschiedener Arten anfertigen sollten, besonders in militärischer und kommerzieller Hinsicht – so über eine Schiffszählung, deren Ergebnis nur dem Rat vorgetragen werden sollte. Es ging auch um die Klärung der Verteidigungsbereitschaft der Stadt, um die Bestimmung von Vorräten wie Holz, Korn, Salz und Tharlarionöl. Ohne konkrete Beschlüsse wurde gesprochen über die Besteuerung, die Vereinheitlichung und Revisionen der Gesetze, die Errichtung von Ratsgerichten in Ablösung der Ubargerichte und über die Aufstellung einer Gruppe von Bewaffneten, die nur dem Rat unterstehen und eine kleine Ratsmiliz bilden sollten. Es sei hier erwähnt, daß es eine solche Gruppe bereits innerhalb des Arsenals gab eine Art Polizei, die zu einer Abteilung der neuen Ratswache werden konnte, wenn diese Wirklichkeit werden sollte. Natürlich kontrollierte der Rat schon eine große Anzahl von Schiffen und Mannschaften, doch darf nicht übersehen werden, daß diese Macht im Grunde seemännischer Natur war, eine Art Marine; die Ereignisse des Nachmittags hatten gezeigt, daß der Rat auch eine kleine verläßliche Infanterie zur Verfügung haben mußte.