»Ja«, sagte ich, »in wenigen Stunden ist die Flotte da, und wir alle sind gerettet.«
Sie legte mir die Hand auf die Stirn und barg das Gesicht an meiner Schulter.
»Du darfst nicht weinen«, sagte ich und drückte sie an mich.
»Ich habe dir so weh getan«, sagte sie.
»Nein.«
»Es ist alles so seltsam.«
»Was ist seltsam?«
»Daß Samos hier ist.«
»Wieso?«
»Weil er vor Jahren mein Herr war.«
Ich sah sie verblüfft an.
»Ich wurde im Alter von sieben Jahren bei einem Überfall zur Sklavin gemacht«, sagte sie, »und Samos kaufte mich auf dem Markt. Jahrelang behandelte er mich mit großer Fürsorge. Ich wurde gut behandelt und lernte Dinge, die Sklaven sonst nicht beigebracht werden. Du weißt ja, daß ich lesen kann.«
Ich wußte noch, wie ich mich gewundert hatte, daß sie als einfaches Rencemädchen so gebildet war.
»Und ich erfuhr auch viele andere Dinge«, sagte sie. »Als ich lesen konnte, wurde mir sogar das Zweite Wissen eröffnet.«
Das sogenannte ›Zweite Wissen‹ war auf Gor im allgemeinen nur den höchsten Kasten vorbehalten.
»Obwohl ich nur eine Sklavin war«, fuhr sie fort, »wurde ich mit Liebe großgezogen, und Samos war fast wie ein Vater zu mir. Ich durfte mit Schriftgelehrten und Sängern und Kaufleuten und Reisenden sprechen. Ich schloß Freundschaften mit anderen Mädchen im Haus, die auch viel Bewegungsfreiheit hatten, wenn auch nicht soviel wie ich. Wir konnten uns in der Stadt frei bewegen, obwohl wir immer von Wächtern begleitet waren, die uns beschützen sollten.«
»Und was geschah dann?«
Gepreßt sagte sie: »Man hatte mir gesagt, an meinem siebzehnten Geburtstag würde eine große Veränderung in meinem Leben eintreten.« Sie lächelte. »Ich rechnete damit, daß ich freigelassen und als Samos’ Tochter adoptiert werden würde.«
»Und was geschah?«
»Bei Tagesanbruch kam der Sklavenmeister zu mir. Ich wurde in den Keller geführt, erhielt einen Sklavenkragen und wurde ausgepeitscht und zu anderen Mädchen in einen Saal gesperrt. Diese Mädchen mißhandelten mich weiter, denn sie wußten, welch bevorzugte Stellung ich im Hause gehabt hatte. Tagelang dachte ich, da wäre ein schrecklicher Irrtum passiert. Aber dann wurde ich Samos vorgeführt.«
»Und was sagte er?«
»Er sagte: ›Aus den Augen mit dieser Sklavin!‹«
Sie erbebte in meinen Armen.
»Dann mußte ich im Haus dienen und erhielt meistens die unwürdigsten Arbeiten zugeteilt. Ich wurde oft geschlagen und mußte nachts in einem winzigen Käfig schlafen, in dem ich mich kaum bewegen konnte.« Wütend hob sie den Kopf. »In mir wuchs ein großer Haß auf Port Kar, auf Samos und die Männer und auf die Sklaven, zu denen ich gehörte. Schließlich lebte ich nur noch für meinen Haß und den Traum, daß ich eines Tages fliehen und meine Rache genießen würde.«
»Und du bist geflohen!«
»Ja, als ich das Quartier des Sklavenmeisters saubermachte, fand ich den Schlüssel zu meinem Kragen.«
»Er muß ein sehr unvorsichtiger Mann gewesen sein«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln. »Und dicht neben dem Schlüssel lag ein goldener Armreif. Ich nahm ihn an mich. Vielleicht brauchte ich das Gold, um einen Wächter zu bestechen.« Sie senkte den Kopf. »Aber es war kein Problem, das Haus zu verlassen. Ich sagte, ich hätte einen Auftrag, und die Wächter ließen mich durch. Natürlich war ich schon öfter in der Stadt unterwegs gewesen. In einem dunklen Winkel entfernte ich den Kragen, damit ich mich freier bewegen konnte und in der Stadt nicht angehalten wurde. Ich fand einige Stämme, Schnur und eine Stange, baute mir ein einfaches Floß und entkam durch einen der Deltakanäle, die damals noch nicht versperrt waren. So gelang mir die Flucht. Ich war als Kind in den Sümpfen groß geworden und hatte keine Angst vor einer Rückkehr dorthin. Die Männer Ho-Haks fanden mich und nahmen mich in ihre Gemeinschaft auf. Dabei durfte ich sogar den goldenen Armreif behalten.«
Ich betrachtete nachdenklich die gegenüberliegende Wand. »Haßt du Samos noch immer?«
»Ich hatte damit gerechnet«, sagte sie. »Aber nachdem er nun hier ist und uns hilft, hasse ich ihn plötzlich nicht mehr. Es ist alles sehr seltsam.«
Ich war müde. Ich wollte schlafen. Es freute mich, daß mir Telima einen Abschnitt ihres Lebens geschildert hatte, den ich bisher noch nicht kannte. Ich spürte, daß mehr hinter ihrem Bericht steckte, als mir im Augenblick klar wurde, mehr, als sie selbst begriff. Aber ich war zu müde zum Nachdenken.
»Du weißt natürlich, daß der Turm bald gestürmt und wir alle niedergemacht werden? Zumindest die Männer.«
»Die Flotte wird kommen«, sagte sie zuversichtlich.
»Ja – aber wenn sie nun nicht käme?«
»Sie kommt.«
Ich streichelte zärtlich ihre Wange, lehnte den Kopf an die Wand und schlief auf der Stelle ein.
»Sie kommen!« brüllte jemand.
Ich fuhr auf und sprang an die Leiter.
»Mein Ubar!« rief Telima hinter mir. »Ich habe dir dies mitgebracht.«
Zu meiner Verblüffung reichte sie mir mein altes Schwert, meinen langjährigen Kampfgefährten, den ich in den letzten Monaten nicht bei mir gehabt hatte.
Ich betrachtete die Klinge. Dann legte ich das Admiralsschwert ab.
»Danke«, sagte ich.
Unsere Lippen berührten sich, dann stieg ich die Sprossen hinauf. Geschrei und hastiges Fußgetrappel waren von oben zu hören. An meiner Hüfte hing nun das Schwert, das mich nach Port Kar begleitet hatte, das ich schon bei der Belagerung Ars geführt hatte, in Tharna und im Nest der Priesterkönige, auf den Ebenen der Wagenvölker und in den Straßen Ars, als ich dort Cernus, dem Besitzer des Hauses Cernus, diente. Es besaß keinen juwelengeschmückten Griff und auch keine ziselierte Klinge, doch als Waffe genügte es mir. Telima hatte sie bei meinen Besitztümern gefunden und mit in den Turm genommen. Es erschien mir seltsam, daß sie so fest mit meiner Rückkehr nach Port Kar gerechnet hatte. Ich freute mich, daß ich die vertraute Klinge, die mich an frühere, schönere Zeiten erinnerte, an mein Leben als Tarl Cabot, in diesem Augenblick bei mir hatte.
Wenn man schon sterben muß, dann am liebsten mit einer vertrauten Klinge in der Hand, einem alten Kampfgefährten.
Wir verteidigten die Turmspitze.
Die letzten vier Pfeile meines Langbogens waren verschossen, und vier Männer, die eine Gefahr für uns werden konnten, waren von der Deltamauer unterhalb des Turms gestürzt. Von dort versuchten die Schützen den Angriff der Belagerer zu decken.
Wir standen sogar auf den Holzunterständen, dicht unter den Tarnnetzen, und kämpften mit Speeren und Schwertern gegen die Tarnkämpfer, die von ihren Vögeln sprangen und uns von oben angriffen, um uns niederzumachen.
Wir hörten Seile mit Haken heransurren, hörten, wie sich die Metallspitzen im Mauerwerk und in den Maschen des Tarnnetzes verhakten. Wir hörten, wie Rammböcke gegen die Mauern donnerten, große Masten, an die kleine Sprossen gebunden waren, an die Außenwände gelehnt wurden. Wir hörten das Trompetenzeichen, das zum Angriff blies, die hastigen Schritte, das Klettern, das Geklirr der Waffen, das Schlachtgebrüll der Männer.
Kurz darauf erschienen behelmte Köpfe über den Bastionen. Augen blitzten in den Y-förmigen Schlitzen der Helme, behandschuhte Hände und gestiefelte Füße kamen in Sicht – zahlreiche Kämpfer stürmten auf unsere letzte Bastion.
Ich sprang von dem Unterstand, auf dem ich gestanden hatte, und stürmte zur Mauer. Ich hörte Samos’ Schwert klirren und die Schreie von Männern hinter mir.
Aus dem Augenwinkel sah ich Fisch, der an mir vorbeirannte, einen Speer mit beiden Händen über den Kopf erhoben, und hörte einen langgezogenen Entsetzensschrei, der mit dem häßlichen Aufklatschen eines Körpers unten auf dem Pflaster des Hofs abriß.
»Hindert sie am Übersteigen der Bastion!« rief ich meinen Leuten zu.
Sie eilten zu den Mauern.
Wir kämpften verzweifelt mit Gegnern, die die Außenmauer bereits überstiegen hatten. Einer der Eindringlinge kletterte sogar schon die Leiter in die unteren Geschosse des Turms hinab. Doch dann schrie er plötzlich auf und verschwand aus meinem Blickfeld.