Im nächsten Augenblick erschien Telimas Kopf in der Öffnung. Zwischen den Zähnen hielt sie einen Dolch und schwenkte mit der Rechten mein Admiralsschwert; die Klinge war blutig.
»Zurück!« rief ich ihr zu.
Da sah ich Luma und Vina hinter ihr auftauchen. Sie hoben Steine auf, liefen zur Außenwand und schleuderten sie aus allernächster Nähe auf die Köpfe der Angreifer.
Mit heftiger Bewegung, das Schwert mit beiden Händen führend, schlug Telima einem Mann den Kopf ab. Doch im nächsten Augenblick schlug ihr ein anderer Gegner die Klinge aus der Hand. Er hob seine Waffe, um sie zu erschlagen, doch ich war rechtzeitig zur Stelle und streckte ihn nieder, ehe er sein Vorhaben verwirklichen konnte.
Ich sah einen Mann kreischend rückwärts stürzen, von einem kopfgroßen Stein getroffen, den Luma geschleudert hatte. Vina hatte sich eines Schildes bemächtigt, das sie kaum heben konnte, und versuchte damit Fisch zu decken, der in einen heftigen Zweikampf verwickelt war. Er entschied das Duell zu seinen Gunsten und sah sich hastig nach einem neuen Gegner um.
Ich warf den Mann, den ich getötet hatte, über die Brüstung, der dabei gegen einen anderen Kämpfer prallte. Dieser, an den Belagerungspfahl geklammert, segelte in hohem Bogen mit dem vom Turm abrutschenden Mast in die Tiefe. Neben mir erwehrte sich einer meiner früheren Sklaven mit einem abgebrochenen Speerschaft seines Gegners.
Samos stieß seine Klinge in die Y-förmige Öffnung eines Helms, parierte einen Speerhieb und erwiderte den Schwertschlag eines dritten Gegners.
In diesem Augenblick wurde zum Rückzug geblasen. Schweratmend, blutüberströmt – sahen wir uns um.
»Der nächste Angriff«, sagte Samos keuchend, »ist der letzte.«
Samos war noch am Leben, Fisch und ich und die vier Mädchen und noch insgesamt fünf Männer.
Ich blickte über das Delta.
Von unten schallte Lärm herauf. Offenbar wurden die Krieger neu formiert. Waffen klirrten. Diesmal brauchten wir nicht lange auf den neuen Angriff zu warten.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich zu Samos.
»Auch ich wünsche dir alles Gute, Krieger«, sagte er und wandte den Kopf. Er schien seltsam verlegen zu sein. Ich fragte mich, was er hatte und weshalb er mich Krieger genannt hatte.
Ich nahm Telima in die Arme. »Beim nächsten Angriff bleibst du unten.«
»Und du ebenfalls«, wandte sich Fisch an Vina.
»Aber ich finde es unten zu stickig«, bemerkte Telima.
»Und ich auch«, sagte Luma unter Tränen.
»Also gut, dann werdet ihr eben unten an die Leitern gebunden!«
»Dazu hast du wohl nun keine Zeit mehr«, sagte Samos mit einem Blick über die Brüstung.
Die Trompeten bliesen wieder zum Angriff. Lärm schallte herauf.
Mit lautem Geschrei stürmten Hunderte von Männern an den Fuß des Turms. Wieder hörten wir, wie Belagerungspfähle angelegt wurden, wieder knirschten Haken in die Mauern. Und auf der Mauer zum Delta hin standen nun ganz offen Armbrustschützen, die wußten, daß wir unsere Pfeile verschossen hatten. Sie wollten den Kletternden Deckung geben.
Wir hörten, wie die Männer an der Turmwand höherkamen, wie ihre Schwerter und Speerspitzen gegen die Mauer schlugen.
Drüben brüllte der Anführer der Armbrustschützen seine Befehle. Die Belagerer kamen unaufhaltsam näher.
Plötzlich traute ich meinen Augen nicht. Ich sah eine Erscheinung hinter der Mauer, auf der die Armbrustschützen standen – ein seltsames Aufblitzen. Der Anführer der Schützentruppe zuckte zusammen, griff sich an die Brust und stürzte.
»Du tust mir weh!« schrie Telima. Ich hatte eine Hand um ihren Arm gekrampft.
»Bleib unten!« rief Samos.
Plötzlich waren auf der Krone der Mauer zum Delta über hundert Enterhaken zu sehen, deren Seile sich strafften, als seien sie belastet worden. Einer der Armbrustschützen blickte in Richtung Sumpf und zuckte zurück. Ein Pfeil ragte ihm aus der Stirn, ein Geschoß, das nur von einem Langbogen stammen konnte.
Dann sahen wir die Armbrustschützen von der Mauer fliehen.
Doch unsere Belagerer waren schon gefährlich nahe.
Im nächsten Augenblick schwärmten Hunderte von Männern über die Deltamauer.
»Rencebauern!« rief ich verblüfft.
Doch jeder der Männer trug einen Langbogen über der Schulter. Sie nahmen auf der Deltamauer Aufstellung, hoben wie ein Mann ihre Bogen, legten Pfeile auf, und im nächsten Augenblick erblickte ich Ho-Hak, der mit lautem Aufschrei den Arm senkte, und wie ein Hagelschauer zuckten die federbesetzten Pfeile in Richtung Turm. Und ich sah neben Ho-Hak den Bauern Thurnock mit seinem Bogen und neben ihm, mit Netz und Dreizack, meinen Freund Clitus. Die Männer auf den Belagerungsleitern schrien auf, Holz scharrte an der Turmwand entlang. Körper regneten auf die unten wartenden Soldaten. Wieder und wieder bohrten sich Pfeilsalven in die dichtgedrängt stehenden Belagerer, die schließlich in wilder Panik die Flucht ergriffen. Doch jeder Bogenschütze verfolgte sein Ziel, und es gab nur wenige, die sich auf der anderen Seite meines Anwesens in Sicherheit bringen konnten. Schon schwärmten die Rencebauern von der Mauer und sprangen auf andere Dächer, um wirklich jeden Punkt des umschlossenen Gebiets bestreuen zu können. Meine Männer und die Mädchen warfen Steine auf die Belagerer, die die Deckung des Turms suchten, bis auch diese Gruppe auseinanderlief. Einen Augenblick sah ich tief unten Lysius’ angstverzerrtes Gesicht und neben ihm, ein Stirnband aus Perlen, um den Kopf, den Rencebauern Henrak, der vor langer Zeit seine Gefährten an Port Kar verraten hatte. Hinter ihnen, in eine kostbare Robe aus weißem Fell gekleidet, erblickte ich einen anderen Mann, der sich verzweifelt umsah. Ich kannte ihn nicht.
»Das ist Claudius!« rief Fisch neben mir. »Claudius!«
Das also war Claudius, der Regent des Henrius Sevarius, der den Jungen hatte töten wollen.
Fisch ballte die Fäuste auf der Brustwehr.
In Begleitung einiger anderer Männer flohen die drei Gestalten in mein Haus.
Auf der gegenüberliegenden Mauer schwenkte Thurnock seinen Langbogen über dem Kopf, und Clitus tat es ihm nach. Ich hob die Hand und erwiderte ihren Gruß.
Auch grüßte ich Ho-Hak, den Rencebauern. Mir entging nicht, wie geschickt seine Männer ihre Bogen einsetzten. Zweifellos kannten sie die Vorteile einer solchen Waffe von mir und hatten sie nun zu ihrer eigenen gemacht. Ich glaubte nicht, daß die Rencebauern weiterhin dem Willen der Sklavenhändler aus Port Kar unterworfen waren.
»Sieh doch!« rief Samos.
Männer flohen von meinem Grundstück – ein Stück weiter unten kamen mit blitzenden Rudern und gesenktem Mast zwei Tarnschiffe durch einen Kanal.
»Die Venna!« rief ich. »Und die Tela!«
Den Schild erhoben, einen Speer in der Hand, so stand Tab am Bug der Venna.
Er mußte seine beiden Schiffe quer zum Sturm gerudert haben, ohne ein Sturmsegel zu setzen. Er hatte sein Leben riskiert, nur um nicht abgetrieben zu werden. Die übrige Flotte lag bestimmt noch hundert Pasang weiter südlich.
»Ein Seemann, der seiner Stadt wirklich würdig ist!« sagte Samos.
»Liebst du Port Kar so sehr?« fragte ich.
»Es beherbergt meinen Heimstein«, sagte er schlicht.
Die beiden Schiffe bogen in das Innenbecken ein, und meine Armbrustschützen feuerten auf die Fliehenden im Hof. Kämpfer warfen ihre Waffen fort und knieten nieder. Der Widerstand war gebrochen.
Ich drückte Telima an mich, die zugleich lachte und weinte.
Am Fuß des Turms traten uns kurz darauf Thurnock, Clitus und Ho-Hak entgegen. Wir umarmten uns stumm.
»Ihr habt euch den Langbogen zu eigen gemacht«, sagte ich zu Ho-Hak.
»Du hast uns gelehrt, was man damit machen kann, Krieger«, erwiderte Ho-Hak.
Thurnock und Clitus hatten sich mit ihren Mädchen Thura und Ula an die Rencebauern gewandt und um Hilfe gebeten, und die Rencebauern hatten tatsächlich ihr Leben für mich riskiert.
»Vielen Dank, Ho-Hak«, sagte ich.
»Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte er, »Krieger.«