Ich bemerkte, daß Sarm seine gebogenen Hornklingen entblößt hatte.
Hinter mir ertönte die mechanische Stimme Misks: »Aber sie ist die Mutter, und wir im Nest sind ihre Kinder.«
Ich lächelte.
Sarm merkte, daß ich nicht weiter vorrücken wollte, und beruhigte sich etwas.
In diesem Augenblick stellte ich auch fest, wie die Priesterkönige atmen; wahrscheinlich war Sarms Atmung durch die Aufregung beschleunigt.
Am Unterleib finden Muskelkontraktionen statt, die an jeder Seite des Unterleibs durch vier kleine Löcher Luft in den Körper saugen; die gleichen Löcher dienen zum Ausstoßen der verbrauchten Luft. Normalerweise ist dieser Atemvorgang nicht zu hören, doch jetzt vernahm ich deutlich das pfeifende Entweichen der Luft.
Sarm beruhigte sich schließlich. Er hatte seine Hornklingen verschwinden lassen und legte nun die beiden Vorderbeine zusammen.
Seine Antennen rührten sich nicht.
Er musterte mich reglos.
Plötzlich zeigte ein Tentakel in Misks Richtung. »Du hättest es narkotisieren sollen. Es ist gefährlich!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Misk.
Ich bedauerte nun, daß ich Misks Vertrauen enttäuscht hatte. Ich hatte mich unvernünftig verhalten.
»Es tut mir leid«, sagte ich und steckte mein Schwert ein.
»Komm mit auf die Scheibe, Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte Misk und deutete mit einem Vorderbein auf das flache Oval, das Sarm benutzt hatte.
Ich zögerte.
»Es hat Angst«, sagte Sarm.
»Es hat auch Grund dazu.«
Ich trat auf die Scheibe, und die beiden Priesterkönige folgten. Sie stellten sich links und rechts ein wenig hinter mich. Kaum war dies geschehen, als die Scheibe lautlos auf die Rampe glitt, die in den Kessel hinabführte.
Die Scheibe bewegte sich sehr schnell, und ich hielt mich nur mit Mühe auf den Beinen, stemmte mich nach vorn in den Wind. Zu meinem Ärger schienen die Priesterkönige keine Schwierigkeiten dieser Art zu haben.
Ihre Vorderbeine ragten in die Höhe, ihre Fühler wehten im Wind nach hinten.
12
Mitten in dem riesigen, hellerleuchteten Amphitheater kam die Scheibe auf einem Marmorplatz zum Stillstand. Ringsum erstreckte sich die fantastische Architektur des Nests der Priesterkönige. Der Platz war belebt. Ich sah nicht nur Priesterkönige, sondern auch zahlreiche andere Wesen verschiedener Form und Art. Auch viele Männer und Frauen gingen barfuß und mit geschorenem Kopf über den Platz.
»Sind das Sklaven?« fragte ich. »Sie tragen keine Kragen.« »Es ist nicht erforderlich, einen Unterschied zwischen freien Menschen und Sklaven zu machen«, sagte Misk, »denn im Nest sind alle Menschen Sklaven.«
»Warum sind sie kahlköpfig?«
»Das ist sauberer.«
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Sarm. Ich erfuhr später, daß seine Unruhe auf die Angst zurückzuführen war, sich auf diesem öffentlichen Platz zu beschmutzen. Hier gab es Menschen!
»Soll ich auch geschoren und in purpurne Sklavenkleidung gesteckt werden?« Ich legte die Hand auf den Schwertgriff.
»Vielleicht nicht«, sagte Sarm. »Es mag sein, daß er vernichtet wird. Ich muß zuerst die Duftbänder überprüfen.«
»Er darf nicht sofort vernichtet werden«, sagte Misk. »Auch wird er nicht geschoren und wie ein Sklave gekleidet – das ist der Wunsch der Mutter.«
»Was hat sie damit zu tun?« wollte Sarm wissen.
»Viel«, sagte Misk.
Sarm schien ratlos zu sein. Seine Fühler zuckten nervös. »Ist er aus bestimmtem Grund in die Tunnel geholt worden?«
»Ich bin von allein gekommen«, schaltete ich mich ein.
»Unsinn«, sagte Misk.
»Was soll er hier in den Tunnels?« fragte Sarm.
»Das weiß nur die Mutter«, sagte Misk.
»Ich bin der Erstgeborene«, sagte Sarm.
»Sie ist die Mutter«, entgegnete Misk.
»Na gut«, sagte Sarm und wandte sich ab. Ich spürte, daß er ziemlich aufgebracht war. »Beeilen wir uns!«
»Dein Schwert«, sagte Misk und streckte mir ein Vorderbein entgegen.
Obwohl ich mich zuerst weigern wollte, löste ich schließlich doch den Schwertgürtel und reichte Misk die Waffe.
Sarm, der in dem langen Raum auf einer Art Podest stand, wandte sich zufrieden ab.
Er trat an eine Wand, an der zahlreiche winzige Knöpfe zu sehen waren.
Einige zog er heraus. Sie schienen an schmalen Schnüren befestigt zu sein, die er zusammen mit den Knöpfen aus der Wand zog und zwischen seinen Fühlern hindurchführte.
Eine Ahn verging. Unruhig schritt ich auf und ab. Misk verharrte unbeweglich.
»Die Duftbänder verraten nichts«, sagte Sarm schließlich.
»Natürlich nicht. Zunächst ist es der Wunsch der Mutter, daß dieses Wesen als Matok leben soll.«
»Was ist das?« fragte ich.
»Ein Wesen, das im Nest lebt, aber nicht zum Nest gehört«, erklärte Misk.
»Wie das Wurmwesen«, sagte ich leise.
»Wenn es nach mir ginge, käme er ins Vivarium oder in die Vernichtungskammer.«
»Aber das ist nicht der Wunsch der Mutter. Die Mutter ist das Nest, und das Nest ist die Mutter«, sagte Misk.
»Ja«, erwiderte Sarm, und die beiden Priesterkönige traten aufeinander zu und führten sanft ihre Antennen zusammen.
Als sie sich voneinander lösten, wandte sich Sarm an mich. »Trotzdem werde ich mit der Mutter über diese Angelegenheit sprechen. Man hätte mich fragen müssen, denn ich bin der Erstgeborene.«
»Ja«, sagte Misk.
»Das Ding ist gefährlich«, sagte Sarm. »Es muß vernichtet werden.«
Dann wandte er sich ab und drückte auf einen Knopf.
Im nächsten Augenblick glitt eine Tür auf, und zwei gutaussehende junge Männer, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, traten ein und stellten sich vor der Empore auf. Sie hatten geschorene Köpfe und trugen die purpurne Sklaventunika.
Auf ein Zeichen Sarms warfen sie sich vor ihm zu Boden und standen wieder auf.
»Ich bin Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte ich zu den beiden und streckte meine Hand aus.
Aber sie schienen sie nicht einmal zu bemerken. Ich hielt sie für eineiige Zwillinge. Sie hatten gut geformte Köpfe, breite Körper und strahlten Kraft und Selbstsicherheit aus.
»Ihr dürft sprechen«, sagte Sarm.
»Ich bin Mul Al-Ka«, sagte der eine, »unwürdiger Sklave der ruhmreichen Priesterkönige.«
»Ich bin Mul Ba-Ta«, sagte der andere, »unwürdiger Sklave der ruhmreichen Priesterkönige.«
»Im Nest wird das Wort ›Mul‹ verwendet, wenn von einem menschlichen Sklaven die Rede ist«, erklärte Misk.
Ich nickte. Die Begriffe »Al-Ka« und »Ba-Ta« stehen für die beiden ersten Buchstaben des goreanischen Alphabets, so daß die beiden Sklaven keine Namen hatten, sondern nur A und B genannt wurden.
Ich wandte mich an Sarm. »Wahrscheinlich gibt es doch mehr als achtundzwanzig menschliche Sklaven.« Das goreanische Alphabet hatte achtundzwanzig Buchstaben.
»Andere tragen Zahlen«, erwiderte der Priesterkönig. »Wenn einer stirbt, wird die Nummer neu vergeben.«
»Und warum tragen die Sklaven keine Nummer?« wollte ich wissen.
»Weil sie etwas Besonderes sind. Kannst du raten, welcher der beiden synthetisiert worden ist?«
Ich muß ziemlich erschrocken zusammengefahren sein.
Sarms Tentakel kicherten.
»Ja«, sagte Sarm. »Einer ist synthetisiert – zunächst aus der Synthese von Proteinmolekülen, woraufhin sich dann ein Molekül auf das andere formte. Es ist ein künstlich konstruierter Mensch. Kusk, ein Priesterkönig, hat zweihundert Jahre dazu gebraucht – für ihn kein Problem, eine Erholung von seinen ernsthaften biologischen Forschungsarbeiten.«
Ich erschauerte. »Was ist mit dem anderen?« fragte ich.
»Auch der ist eine interessante Arbeit Kusks«, sagte Sarm. »Das Produkt genetischer Manipulation. Und von nicht geringer Bedeutung ist die Übereinstimmung der beiden.«
Ich begann zu schwitzen. Es stimmte, ich hätte die Männer – wenn es wirklich Männer waren – nicht auseinanderhalten können.
»Kusk ist wirklich ein Meister seines Faches, einer der Großen des Nestes.«