Kaum hatte ich einige Ehn zurückgelegt, als ich eine Barrikade aus dicken Stahlstangen erreichte, die jene Tunnels des Nests, zu denen Muls Zugang hatten, von den Sperrgebieten trennten.
Hier wachte ein Priesterkönig, dessen Fühler fragend hin und her schwenkten, als ich meine Transportscheibe vier Meter vor ihm stoppte.
Sein Kopf steckte in einem Kranz aus grünen Blättern, und wie bei Sarm hing ein Band aus verfremdeten Metallwerkzeugen um seinen Hals.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich die Verwirrung des Priesterkönigs begriff.
Die Tunika, die ich anhatte, enthielt keinerlei Duftsignale, und einen Augenblick hatte er angenommen, daß meine Transportscheibe tatsächlich ohne Fahrer geflogen war.
Ich glaubte förmlich das Flackern der großen Scheibenaugen zu erkennen, als sich der Priesterkönig zu orientieren versuchte – etwa wie wir versucht hätten, einem winzigen Geräusch nachzulauschen.
Seine Reaktion erinnerte mich an die eines Menschen, der etwas in einem Zimmer gehört hat, ohne zugleich etwas zu sehen.
Schließlich richteten sich seine Fühler auf mich – aber ich bin sicher, er ärgerte sich, daß er die starken Signale nicht empfing, die er hätte erwarten können, wenn ich meine geruchspräparierte Tunika getragen hätte. Ohne diese Tunika unterschied ich mich für ihn wahrscheinlich nicht von anderen männlichen Muls des Nestes. Einem anderen Menschen wäre natürlich sofort mein wirres rotes Haar aufgefallen – doch wie ich gesagt habe, verfügen die Priesterkönige nur über ein wenig ausgeprägtes Sehvermögen und sind, wie ich vermute, zudem noch farbenblind.
Farben finden sich im Nest überhaupt nur in den Gegenden, in denen sich Muls aufhalten. Der einzige Priesterkönig, der mich sofort erkannt hätte, war vermutlich Misk, der mich nicht nur als Mul, sondern als Freund ansah.
»Du bist zweifellos der Edle Wächter der Kammer, in der ich Geruchssymbole auf meiner Tunika anbringen kann«, rief ich freundlich.
Der Priesterkönig schien erfreut zu sein, meine Stimme zu hören.
»Nein«, sagte er. »Ich bewache den Eingang zu den Tunnels der Mutter, und du darfst nicht passieren.«
Also, sagte ich mir, hier bist du richtig.
»Wo kann ich meine Tunika kennzeichnen lassen?« fragte ich.
»Flieg in der Richtung zurück, aus der du gekommen bist, und erkundige dich«, sagte der Priesterkönig.
»Ich danke dir, edler Priesterkönig!« rief ich, riß die Transportscheibe herum, als hätte sie eine Zentralachse, und raste davon. Über die Schulter bemerkte ich, daß der Priesterkönig mir nachzustarren« versuchte.
Hastig lenkte ich die Scheibe in einen Seitentunnel und begann nach einem Entlüftungsschacht zu suchen.
Zwei oder drei Ehn später fand ich ein geeignetes Gitter.
Ich lenkte die Scheibe noch einen halben Pasang weiter und stellte sie neben einem offenen Portal ab, hinter dem Muls damit beschäftigt waren, blubbernde Plastikmasse umzurühren.
Hastig kehrte ich zu Fuß zum Ventilatorenschacht zurück, löste eine Seite des Schutzgitters, zwängte mich hinein und wanderte nach wenigen Augenblicken wieder durch das ausgedehnte Entlüftungssystem des Nests.
Dabei versuchte ich die Richtung zur Kammer der Mutter einzuschlagen.
Von Zeit zu Zeit passierte ich Öffnungen im Schacht und starrte hinaus.
Einmal konnte ich erkennen, daß ich mich bereits hinter dem Stahlgitter befand, das von dem Priesterkönig bewacht wurde. Das Wesen stand starr vor dem geschlossenen Portal und ahnte nicht, daß ich es bereits umgangen hatte.
Das Fest von Tola schien lautlos abzulaufen, so daß ich mich nicht nach dem Lärm orientieren konnte, aber auch so hatte ich keine Mühe, den Ort der Feier ausfindig zu machen. Ich erreichte einen Schacht – einen Tunnel, durch den verbrauchte Luft aus dem System gepumpt wird –, in dem eine außerordentliche Vielfalt von Düften herrschte – Gerüche, die ich während meiner Zeit bei Misk als Symbole von Schönheit für die Priesterkönige kennengelernt hatte.
Ich folgte diesen Düften und sah mich bald über einer gewaltigen Höhle.
Sie war vielleicht nur dreißig Meter hoch, aber in Länge und Breite übertraf sie viele andere Räume des Nestes. Sie war gefüllt mit goldenen Priesterkönigen, grüngeschmückt und mit dem klirrenden Halsschmuck der Metallwerkzeuge versehen.
Es gab etwa tausend Priesterkönige im Nest, und ich hatte den Eindruck, als wären alle hier versammelt – außer jenen, die Wachdienste versehen mussten, etwa am Stahlgitter, im Überwachungsraum oder – ganz bestimmt – in der Energiestation.
Ein Großteil der Arbeiten, zum Teil auch qualifizierte Tätigkeiten, wurde bereits von besonders ausgebildeten Muls durchgeführt.
Die Priesterkönige umstanden in unzähligen konzentrischen Reihen nach Art eines alten Theaters eine Art Podest. Auf einer Seite waren vier Priesterkönige an den Knöpfen eines großen Duftmischers beschäftigt.
Hunderte von kleinen Kontakten befanden sich dort, und die Priesterkönige berührten diese mit großer Geschicklichkeit, wobei sie offenbar nach einem bestimmten Rhythmus vorgingen.
Ich bezweifelte nicht, daß diese Priesterkönige die besten Musiker des Nestes waren, hatte man sie doch ausgewählt, beim großen Fest von Tola zu spielen.
Die Fühler der tausend Priesterkönige schienen starr zu sein, so konzentriert folgten sie der Schönheit dieser Musik.
Ich beugte mich vor und erblickte auf einer hohen Plattform an diesem Ende des Raumes – die Mutter.
Im ersten Augenblick konnte ich nicht glauben, daß es so etwas gab.
Das Wesen gehörte zweifellos der Rasse der Priesterkönige an und hatte jetzt auch keine Flügel mehr – aber das Auffallendste an ihr war der Umfang des Unterleibs. Der Kopf war kaum größer als bei einem normalen Priesterkönig, ebenso der Brustkorb, doch der Unterleib wies Dimensionen auf, die ihn, wenn er mit Eiern gefüllt war, bestimmt zur Größe eines Autobusses anschwellen ließen. Nun lag dieser monströse Behälter natürlich leer und faltig auf der Plattform, zusammengesunken hinter dem Wesen, wie ein Sack aus bräunlich verziertem goldenem Leder.
Selbst mit leerem Unterleib vermochten die Beine das Gewicht nicht zu tragen, und die Mutter lag auf der Empore, ihre Beine waren untergefaltet.
Ihre Hautfarbe unterschied sich von der normaler Priesterkönige- sie war dunkler, bräunlicher, und hier und dort zeigten sich schwarze Flecke auf Brustkorb und Unterleib.
Ihre Antennen schienen unaufmerksam und ohne Spannung. Sie hatte sie über den Kopf zurückgelegt.
Ihre Augen wirkten glanzlos braun.
Ich fragte mich, ob sie wohl blind war.
Sie war das älteste Wesen im Nest, die Mutter.
Es war kaum vorstellbar, daß sie sich vor unzähligen Generationen als junges Wesen mit goldenen Flügeln in die blaue Luft dieses Planeten geschwungen hatte, schimmernd und kraftstrotzend, daß sie mit ihrem Männchen durch den schnellen Wind dieser wilden Welt geeilt war. Wie golden sie ausgesehen haben musste!
Es gab kein Männchen mehr, keinen Vater des Nests, und ich nahm an, daß das Männchen gestorben war oder den Hochzeitsflug nicht lange überlebt hatte. Ich fragte mich, ob er ihr wohl geholfen hatte, oder ob sie allein aus dem Himmel gefallen war, ihre Flügel abgerissen und sich unter den Bergen eingegraben hatte, um das einsame Werk der Mutter zu beginnen – die Gründung eines neuen Nestes.
Ich fragte mich, warum es keine weiteren Weibchen gegeben hatte.
Wenn Sarm sie umgebracht hatte, wie kam es dann, daß die Mutter nichts davon wusste und ihn nicht vernichtet hatte?
Oder war es ihr Wunsch, daß es keine anderen Weibchen gab?
Aber wenn das stimmte, weshalb hatte sie sich dann angeblich mit Misk zusammengetan, um für den Fortbestand der Priesterkönige zu sorgen?
Wieder schaute ich durch das Gitter. Es befand sich etwa neun Meter über dem Boden der Höhle und etwas links von der Plattform.
Ich vermutete, daß es auf der anderen Seite der Empore ein ähnliches Gitter gab, kannte ich doch die Vorliebe für Symmetrie, die die Priesterkönige bei ihren Bauten immer wieder an den Tag legten.