Edgar Rice Burroughs
Die Prinzessin vom Mars
Vorwort
Dem Leser dieser Seiten: Ich glaube, einige Worte zu Hauptmann Carters außergewöhnlicher Persönlichkeit sagen zu müssen, wenn ich Ihnen nun sein bemerkenswertes Manuskript vorlege.
Meine ersten Erinnerungen an ihn stammen aus den Monaten, die er kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges in meinem Elternhaus in Virginia verbrachte. Obwohl ich damals gerade fünf Jahre alt war, kann ich gut mich an den hochgewachsenen, bartlosen und athletischen Mann erinnern, den ich Onkel Jack nannte.
Er schien immer guter Dinge zu sein und beteiligte sich an den Spielen der Kinder mit derselben Aufgeschlossenheit, wie er sie den Vergnügungen seiner Altersgenossen und Altersgenossinnen entgegenbrachte. Auch konnte er ganze Stunden bei meiner Großmutter sitzen und ihr von seinem seltsamen, wilden Leben in allen Teilen der Welt erzählen. Wir alle liebten ihn, und unsere Sklaven beteten förmlich den Boden an, den er betrat.
Er war eine sehr männliche Erscheinung, gut zwei Zoll über sechs Fuß groß, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und der Haltung des durchtrainierten Soldaten. Er hatte regelmäßige, markante Gesichtszüge und schwarzes, kurzgeschnittenes Haar, und die stahlgrauen Augen verrieten einen starken und beständigen Charakter voller Leidenschaft und Unternehmungsgeist. Mit seinen makellosen Umgangsformen und seiner Eleganz verkörperte er den hochgebildeten Gentleman der Südstaaten.
Seine Reitkunst, besonders bei der Treibjagd, sorgte sogar hier, im Land der erstklassigen Reiter, für Aufsehen und Bewunderung. Oft hörte ich, wie mein Vater ihm ungezügelten Leichtsinn vorwarf, doch er lachte nur und meinte, daß das Pferd noch nicht geboren sei, das ihn abwerfen und töten konnte.
Bei Ausbruch des Krieges verließ er uns, und ich sah ihn erst nach fünfzehn, sechzehn Jahren wieder. Seine Rückkehr kam unerwartet, und es überraschte mich sehr, daß er offensichtlich in keiner Weise gealtert war und äußerlich unverändert schien. In Gesellschaft war er wie immer der originelle und lustige Mensch, den wir von früher kannten. Wähnte er sich indes allein, starrte er stundenlang in den Himmel, das Gesicht voller Sehnsucht und trauriger Resignation. Auch des Nachts konnte er oft so sitzen und nach oben blicken, wohin, erfuhr ich erst, als ich Jahre später dieses Manuskript las.
Er erzählte uns, daß er nach dem Krieg eine Zeitlang in Arizona auf Goldsuche gegangen war. und nicht ohne Erfolg. Davon zeugte die unbegrenzte Menge an Geld, über die er verfügte. Wie sein Leben in diesen Jahren im einzelnen verlaufen war, darüber hüllte er sich indes in Schweigen.
Etwa ein Jahr lang blieb er bei uns und ging dann nach New York, wo er ein kleines Stück Land am Hudson erwarb. Dort besuchte ich ihn einmal jährlich, wenn ich zum New Yorker Markt fuhr – mein Vater und ich betrieben zu jener Zeit eine Kette von Gemischtwarengeschäften in ganz Virginia. Hauptmann Carters kleines, aber schönes Landhaus stand am Steilufer des Flusses, über den man einen schönen Überblick hatte. Bei einem meiner letzten Besuche im Winter 1885 sah ich, daß der Hauptmann sehr viel mit Schreiben beschäftigt war, ich vermute nun, an diesem Manuskript.
Damals äußerte er mir gegenüber den Wunsch, daß ich mich um das Anwesen kümmern sollte, falls ihm etwas zustieße. Er gab mir den Schlüssel zu einem Fach des Safes in seinem Arbeitszimmer. Dort würde ich seinen Letzten Willen und einige persönliche Anweisungen finden, wobei ich ihm versprechen mußte, diese genauestens zu befolgen.
Als ich mich zur Nachtruhe begab, sah ich ihn von meinem Fenster mit fast flehentlich zum Himmel gestreckten Armen am Rand des Steilufers stehen. Damals dachte ich, er bete, obwohl ich ihn nie als einen streng religiösen Menschen kennengelernt hatte.
Einige Monate nach der Rückkehr von meinem letzten Besuch, ich glaube, es war am 1. März 1886, erhielt ich ein Telegramm, in dem er mich bat, sofort zu ihm zu kommen. Da er mich von allen Carters schon immer bevorzugt hatte, beeilte ich mich, seiner Bitte Folge zu leisten.
Am Morgen des 4.März 1886 traf ich auf dem kleinen Bahnhof ein, von dem es noch ungefähr eine Meile zu seinem Anwesen war. Als ich den Mietstallbesitzer bat, mich zu Hauptmann Carter zu bringen, erwiderte dieser, daß er, falls ich ein Freund des Hauptmannes sei, eine sehr schlechte Nachricht für mich habe. Der Hauptmann sei heute morgen kurz nach Tagesanbruch vom Wächter des angrenzenden Grundstückes tot aufgefunden worden. Seltsamerweise überraschte mich das nicht. Doch eilte ich so schnell wie möglich zu seinem Haus, um mich um den Leichnam und die übrigen Angelegenheiten zu kümmern.
Ich fand den Wächter, der ihn entdeckt hatte, zusammen mit dem Polizeichef des Ortes und einigen Ortsbewohnern in dem kleinen Arbeitszimmer vor. Der Wachposten berichtete kurz, wie er den Toten aufgefunden hatte, der nach seinen Worten noch warm war, als er auf ihn stieß. Er lag der Länge nach im Schnee, die Arme über den Kopf in Richtung des Ufers ausgestreckt, und als der Mann mir die Stelle zeigte, fiel mir auf, daß es eben jener Platz war, von wo ich ihn in jenen Nächten mit ausgestreckten Armen in den Himmel hatte starren sehen.
Der Körper trug keine Anzeichen von Gewalt, und mit Hilfe des Ortsmediziners kam die Leichenschaukommission schnell zu der Entscheidung, daß der Tod durch Herzversagen eingetreten war. Allein gelassen öffnete ich den Safe und durchstöberte die Schublade, in der ich nach seinen Worten die Anweisungen finden würde. Sie waren teilweise recht merkwürdig, doch hatte ich ihnen bis ins letzte Detail so genau wie möglich Folge zu leisten.
Er ordnete an, seinen Leichnam ohne Einbalsamierung nach Virginia zu überführen und in einem offenen Sarg in einem Grabmal beizusetzen, das er schon zuvor hatte errichten lassen und das, wie ich später erfuhr, gut belüftet war. Den Verfügungen zufolge mußte ich persönlich dafür sorgen, daß dies genau so durchgeführt wurde, wie er es verlangte, wenn nötig sogar unter Geheimhaltung.
Sein Eigentum sollte wie folgt verteilt werden: Zunächst sollten mir nur die Einkünfte der nächsten 25 Jahre zufallen, später der gesamte Nachlaß. Die weiteren Anweisungen bezogen sich auf das Manuskript, das ich so, wie ich es vorfand, 11 Jahre lang versiegelt und ungelesen aufbewahren sollte; auch sollte ich den Inhalt frühestens 21 Jahre nach seinem Tode veröffentlichen. Das Grabmal, in dem sein Leichnam noch ruht, besitzt eine Besonderheit: Die massive Tür ist mit einem riesigen, vergoldeten Schnappschloß versehen, das nur von innen geöffnet werden kann.
1. Auf den Hügeln von Arizona
Ich bin sehr alt: wie alt, weiß ich nicht. Möglicherweise einhundert, möglicherweise älter; aber ich kann es nicht genau sagen, denn ich bin nie gealtert wie andere Männer, auch kann ich mich nicht an meine Kindheit erinnern. Soweit ich mich entsinne, war ich schon immer erwachsen, ein Mann um die Dreißig. Ich sehe noch heute aus wie vor vierzig und mehr Jahren, und dennoch fühle ich, daß ich nicht ewig weiterleben kann, und daß ich eines Tages den wirklichen Tod sterben werde, von dem es kein Zurück mehr gibt. Ich weiß nicht, warum ich den Tod fürchten soll, ich, der ich zweimal gestorben und noch immer am Leben bin; und dennoch habe ich dieselbe Furcht davor wie du, der du noch nie gestorben bist, und ich glaube, daß ich wegen dieser Angst vor dem Tode von meiner Sterblichkeit überzeugt bin.
Deswegen habe ich mich entschlossen, über die interessanten Abschnitte meines Lebens und meines Todes zu berichten. Ich kann die phantastischen Vorfälle nicht erklären; ich kann nur mit den Worten eines einfachen Soldaten jene seltsamen Geschehnisse aufzeichnen, die mir während der zehn Jahre widerfuhren, als mein lebloser Körper unentdeckt in einer Höhle in Arizona lag.
Ich habe diese Geschichte noch nie erzählt, auch soll kein Sterblicher dieses Manuskript zu Gesicht bekommen, bevor ich in die Ewigkeit abgerufen worden bin. Ich weiß, daß der menschliche Verstand seine Grenzen hat, und ich möchte nicht von der Öffentlichkeit, der Kirche und der Presse angeprangert und als Lügenbaron hingestellt werden, wenn ich nur die Wahrheit erzähle, die die Wissenschaft einmal beweisen wird. Wahrscheinlich werden die Anregungen, die ich auf dem Mars erhielt, und das Wissen, das ich in dieser Geschichte niederschreibe, dereinst dabei helfen, die Geheimnisse unseres Schwesternplaneten besser zu verstehen, Dinge, die für dich rätselhaft sind, für mich indes nichts Unerklärliches mehr an sich haben.