Ich sah, daß die Zeremonie vorbei war, falls man sie so umschreiben konnte, und machte Sola in unserer Kutsche ausfindig, die eine der entsetzlichen kleinen Kreaturen fest in den Armen hielt.
Die Erziehung der jungen, grünen Marsmenschen besteht lediglich darin, ihnen die Sprache sowie die Handhabung der Kriegsausrüstung beizubringen, mit der sie von klein auf überhäuft werden. Nach einer Brutzeit von fünf Jahren schlüpfen sie aus den Eiern und kommen, abgesehen von der Größe, voll entwickelt zur Welt. Sie sind die Kinder der Gemeinschaft, den leiblichen Müttern völlig unbekannt, die ihrerseits Schwierigkeiten hätten, auch nur annähernd zu sagen, wer ihre Väter sind. Die Erziehung wird der jeweiligen Frau überlassen, die sie gleich nach Verlassen der Brutstation einfängt.
Unter Umständen haben ihre Pflegemütter nicht einmal ein Ei in die Brutstation gelegt, wie es bei Sola der Fall war, die noch nicht zu legen begonnen hatte und erst vor einem knappen Jahr den Nachkommen einer anderen Frau aufgezogen hatte. Aber das zählt bei den grünen Marsmenschen wenig, denn Liebe zwischen Eltern und Kind ist ihnen ebenso unbekannt wie uns selbstverständlich. Ich sehe in diesem schrecklichen System, das seit Jahrhunderten existiert, den eigentlichen Grund für das Fehlen aller edleren Gefühle und aller höheren menschlichen Instinkte bei diesen armen Kreaturen. Von Geburt an wissen sie nichts von Vater- oder Mutterliebe, sie kennen nicht die Bedeutung des Wortes Zuhause, man lehrt sie, daß sie nur solange geduldet werden, bis sie durch ihre äußere Erscheinung und ihre Gewalttätigkeit beweisen, daß sie lebensfähig sind. Sollten sie sich in irgendeiner Form als verunstaltet oder unvollkommen erweisen, werden sie unverzüglich erschossen. Auch hegen sie kein Bedauern auch nur für eine der vielen Grausamkeiten, die ihnen von frühester Kindheit an angetan werden.
Ich meine damit nicht, daß die Erwachsenen auf dem Mars jungen Menschen gegenüber unnötigerweise oder absichtlich grausam sind, aber sie führen einen harten und erbarmungslosen Existenzkampf auf einem sterbenden Planeten, dessen natürliche Rohstoffe soweit abgenommen haben, daß die Erhaltung eines jeden zusätzlichen Lebens eine weitere Belastung für die jeweilige Gemeinschaft bedeutet.
Durch sorgfältige Auswahl ziehen sie nur die widerstandsfähigsten Exemplare jeder Gattung auf und regulieren mit fast übernatürlicher Voraussicht die Geburtenrate so, daß lediglich die Sterbefälle ausgeglichen werden. Jede erwachsene Frau auf dem Mars legt jährlich ungefähr dreizehn Eier, und alle, die einer bestimmten Größe und Gewicht entsprechen, werden in den Tiefen eines unterirdischen Gewölbes versteckt, wo die Temperatur zum Ausbrüten zu niedrig ist. Jedes Jahr untersucht ein Rat von zwanzig Anführern diese Eier sorgfältig, und von jeder jährlichen Ausbeute werden bis auf etwa einhundert der besten Eier alle anderen zerstört. Nach fünf Jahren sind vielleicht fünfhundert Eier von den Tausenden übriggeblieben. Diese werden in die fast luftdichten Brutstationen gebracht, wo sie im Verlaufe weiterer fünf Jahre von den Sonnenstrahlen ausgebrütet werden. Das Schlüpfen, wie wir es heute verfolgten, verlief in der üblichen Weise. Bis auf ein Prozent der Jungen schlüpfen alle innerhalb von zwei Tagen. Sollten aus den zurückgelassenen Eiern noch welche herausgekrochen sein, so erfuhren wir nie etwas von ihrem Schicksal. Sie waren ungewollt, da ihre Nachkommen die Tendenz zu verlängertem Ausbrüten vererben und so das System durcheinanderbringen würden, das jahrhundertelang funktioniert hatte und es den erwachsenen Marsmenschen erlaubte, auf die Stunde genau den richtigen Zeitpunkt zu errechnen, zu dem sie zu den Brutstationen zurückkehren mußten.
Die Brutstationen befanden sich in entlegenen Gebieten, wo nur wenig oder gar keine Wahrscheinlichkeit bestand, daß andere Stämme sie entdeckten. Ein solcher Fall hätte eine Katastrophe bedeutet, denn innerhalb der nächsten fünf Jahre gäbe es dann keine Kinder. Später sollte ich miterleben, welche Folgen es hatte, wenn Fremde auf einen solchen Inkubator stießen.
In dieser Gemeinschaft grüner Marsmenschen, wohin mich mein Schicksal verschlagen hatte, lebten etwa dreißigtausend Seelen. Sie bevölkerten ein riesiges Gebiet unfruchtbaren und öden Landes auf der südlichen Halbkugel, hauptsächlich den südwestlichen Teil nahe der Kreuzung zweier so genannter Marskanäle.
Da die Brutstation weit nördlich von dem eigenen Territorium in einem offenbar unbewohnten und wenig besuchten Gebiet errichtet worden war, stand uns eine gewaltige Reise bevor, von der ich natürlich nichts wissen konnte.
Wieder in der toten Stadt angelangt, verbrachte ich einige Tage in verhältnismäßigem Müßiggang. Am Tag nach unserer Rückkehr ritten alle Krieger früh am Morgen fort und kehrten erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Später erfuhr ich, daß sie sich zu den unterirdischen Höhlen begeben hatten, in denen die Eier gelagert wurden. Diese hatten sie nun zur Brutstation gebracht, dabei die Mauern erneuert und würden die Station aller Wahrscheinlichkeit nach während der nächsten fünf Jahre nicht wieder besuchen.
Die Gewölbe, in denen die Eier bis dahin lagerten, befanden sich viele Meilen südlich des Inkubators, wo ihnen der Rat der zwanzig Befehlshaber alljährlich einen Besuch abstattete. Warum sie die Höhlen und Brutstationen nicht näher bei ihrem Zuhause errichteten, blieb mir immer ein Rätsel, das wie viele andere Rätsel auf dem Mars ungelöst bleiben sollte, da es unserem irdischen Vorstellungsvermögen und unseren Gewohnheiten widersprach.
Nun hatten sich Solas Pflichten verdoppelt, denn sie mußte sich ebenso um den jungen Marsmenschen kümmern wie um mich, indes nahm keiner von uns viel Aufmerksamkeit in Anspruch, und da wir beide hinsichtlich unserer Fähigkeiten auf dem gleichen Stand waren, unterrichtete uns Sola zusammen.
Sie hatte ein Männchen erbeutet, ungefähr vier Fuß groß, sehr stark und von vollkommenem Körperbau. Es lernte schnell, und zumindest ich fand beträchtliches Vergnügen an dem Wettstreit mit ihm. Wie schon gesagt, ist die Sprache der Marsmenschen sehr einfach, und innerhalb einer Woche konnte ich meine Wünsche äußern und verstand selbst fast alles, was man mir mitteilte. Ähnlich entwickelte ich unter Solas Anleitung meine telepathischen Fähigkeiten, so daß ich bald darauf beinahe alles wahrnahm, was um mich herum vor sich ging.
Sola zeigte sich besonders überrascht, daß niemand auch nur das geringste von meinen Gedanken lesen konnte, während ich die Informationen anderer mühelos aufnehmen konnte, auch wenn sie oft nicht an mich gerichtet waren. Zuerst erschien mir das lästig, später war ich darüber sehr froh, da es mir einen unzweifelhaften Vorteil über die Marsmenschen verschaffte.
8. Eine hübsche Gefangene vom Himmel
Am dritten Tag nach der Zeremonie bei der Brutstation machten wir uns wieder auf den Weg, doch kaum befand sich die Spitze der Kolonne im Flachland vor der Stadt, wurde Befehl zum sofortigen, schnellen Rückzug gegeben. Als hätten sie sich darin jahrelang geübt, lösten sich die grünen Marsmenschen förmlich in Luft auf und verschwanden in den geräumigen Eingängen der nahegelegenen Gebäude, bis nach weniger als drei Minuten vom gesamten Reiterzug, den Fahrzeugen, Dickhäutern und berittenen Kriegern nichts mehr zu sehen war.
Sola und ich hatten uns in ein Gebäude am Stadtrand geflüchtet. Es war dasselbe, in dem ich damals mit den Affen zusammengetroffen war, und da ich wissen wollte, worin die Ursache des plötzlichen Rückzuges bestand, begab ich mich in ein höheres Stockwerk, lugte aus dem Fenster ins Tal und auf die dahinterliegenden Hügel und verstand, warum sie so hastig Schutz gesucht hatten. Ein riesiges graues Fahrzeug, lang und flach, glitt langsam über die nächste Erhebung. Dahinter folgte noch eins und noch eins, bis zwanzig von ihnen, dicht über dem Boden schwebend, majestätisch auf uns zu segelten.