Ja, ich war töricht, doch war ich verliebt, und obwohl ich litt wie noch nie, hätte ich es um all der Reichtümer von Barsoom nicht anders haben wollen. So ist die Liebe, und so sind die Liebenden, wo immer es Liebe gibt. Für mich verkörperte Dejah Thoris Vollkommenheit, Tugend, Schönheit, alles Edle und Gute. Ich glaubte es von ganzem Herzen, während ich in dieser Nacht in Korad mit gekreuzten Beinen auf meinem seidenen Lager saß, der erste Mond von Barsoom über den westlichen Himmel gen Horizont eilte und dabei das Gold, den Marmor und die Edelsteinmosaiks in meinem antiken Gemach anstrahlte. Heute, da ich in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitze, von wo ich auf den Hudson blicken kann, kommt es mir vor, als sei es Gegenwart. Dabei sind zwanzig Jahre seitdem vergangen. Zehn davon habe ich für Dejah Thoris und ihr Volk gelebt und gekämpft, zehn weitere von der Erinnerung an sie gelebt.
Der Tag des Abmarsches nach Thark begann klar und heiß wie jeder Tag auf dem Mars, mit Ausnahme jener sechs Wochen, wenn an den Polen der Schnee schmilzt.
Ich machte Dejah Thoris inmitten der abfahrenden Fuhrwerke ausfindig, doch sie zeigte mir die kalte Schulter, und ich konnte sehen, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Mit der törichten Starrköpfigkeit des Verliebten gab ich mich zufrieden, wo ich mich hätte damit entschuldigen können, daß ich gar nicht wußte, womit ich sie derart gekränkt hatte, und wofür sie mir schlimmstenfalls nur halb vergeben hätte.
Mein Pflichtgefühl ließ mich überprüfen, ob sie bequem untergebracht war, und so blickte ich in ihre Kutsche und richtete ihre Seidentücher und Pelze. Dabei stellte ich mit Entsetzen fest, daß sie mit einer schweren Fußkette ans Fahrzeug gefesselt war.
»Was soll das heißen?« schrie ich Sola an.
»Sarkoja hielt es für das Beste«, entgegnete sie, wobei ihre Miene mir zeigte, wie wenig sie die Maßnahme billigte.
Als ich mir die Kette genauer ansah, bemerkte ich, daß sie mit einem wuchtigen Schloß versehen war.
»Wo ist der Schlüssel, Sola? Bitte gib ihn mir!«
»Sarkoja hat ihn«, entgegnete sie.
Wortlos wandte ich mich um, suchte Tars Tarkas auf und machte ihm Vorhaltungen ob der unnötigen Demütigungen und Grausamkeiten gegenüber Dejah Thoris, wie sie einem Liebenden ja vorkommen mußten.
»John Carter, solltest du und Dejah Thoris überhaupt je die Flucht von den Thark wagen, dann auf dieser Reise. Wir wissen, daß du ohne sie nicht gehen wirst. Du hast dich als tüchtiger Kriegsmann erwiesen, und wir möchten dich nicht anketten. Also halten wir euch beide auf die einfachste und gleichzeitig zuverlässigste Weise fest, die es gibt. Ich habe gesprochen«, entgegnete er.
Ich erkannte augenblicklich die Logik dieser Schlußfolgerung und wußte, daß es sinnlos war, ihn von seiner Entscheidung abbringen zu wollen. Dennoch bat ich ihn, Sarkoja den Schlüssel wegzunehmen und ihr zu befehlen, die Gefangene in Zukunft in Ruhe zu lassen.
»So viel kannst du für mich schon als Gegenleistung für die Freundschaft tun, die ich dir zugegebenermaßen entgegenbringe.«
»Freundschaft?« entgegnete er. »So etwas gibt es nicht, John Carter. Aber du sollst deinen Willen haben. Ich werde Sarkoja befehlen, das Mädchen nicht mehr zu belästigen, und nehme den Schlüssel selbst in Gewahrsam.«
»Falls du nicht mir die Verantwortung übertragen willst«, erwiderte ich lächelnd.
Er blickte mich lange Zeit ernst an und erwiderte dann: »Wenn du mir dein Wort gibst, daß weder du noch das Mädchen zu fliehen versucht, bis wir sicher am Hof von Tal Hajus angekommen sind, kannst du den Schlüssel haben und die Ketten dem Fluß Iss übergeben.«
»Dann ist es besser, du behältst den Schlüssel, Tars Tarkas«, entgegnete ich.
Er lächelte und sagte nichts mehr, aber als wir das Nachtlager aufgeschlagen hatten, beobachtete ich ihn, wie er Dejah Thoris’ Ketten eigenhändig löste.
Trotz seiner Grausamkeit und Kälte hatte man bei ihm das Gefühl, daß er sich ständig im Widerstreit mit sich befand. War es möglich, daß irgendeiner seiner Ahnen ihm einen menschlichen Instinkt vererbt hatte, der ihm nun die Sitten und Gebräuche des eigenen Volkes widerwärtig erscheinen ließ?
Als ich mich Dejah Thoris’ Kutsche näherte, kam ich an Sarkoja vorbei, und der finstere, Blick, den sie mir zuwarf, wirkte seit vielen Stunden auf mich wieder einmal wie Balsam. Großer Gott, wie sehr sie mich verachtete! Ihr Haß war so greifbar, man hätte ihn mit einem Schwert zerteilen können.
Einige Augenblicke später sah ich sie ins Gespräch mit einem Krieger namens Zad vertieft, einem großen, massigen und starken Unhold, der indes noch nie einen der Anführer geschlagen hatte und demzufolge noch immer ein omad war, ein Mann mit nur einem Namen. Er konnte sich nur mit dem Metall eines Anführers einen Zweitnamen verdienen. Derselbe Brauch berechtigte mich, den Namen eines der beiden Anführer zu tragen, die ich getötet hatte, wobei mich einige mit Dotar Sojat ansprachen, einer Kombination der Vornamen jener beiden Krieger, deren Metall ich genommen, oder die ich, mit anderen Worten, in fairem Kampf besiegt hatte.
Als Sarkoja mit Zad redete, blickte er gelegentlich zu mir hin, während sie ihn offensichtlich bedrängte, etwas Bestimmtes zu unternehmen. Damals schenkte ich alle dem kaum Beachtung, doch am nächsten Tag hatte ich guten Grund, mich dessen zu entsinnen und mir darüber klar zu werden, welche Ausmaße Sarkojas Haß annehmen konnte, und zu welchen Dingen ihre schrecklichen Rachegelüste sie treiben konnten.
Dejah Thoris wollte mich an diesem Abend nicht mehr sehen. Als ich sie anredete, schwieg sie und verzog keine Miene, so daß ich nicht wußte, ob sie mich überhaupt wahrnahm. In meiner Not tat ich, was die meisten anderen Liebenden getan hätten. Ich versuchte, durch eine Vertraute mehr zu erfahren. In diesem Falle war es Sola, die ich in einem anderen Teil des Lagers aufstöberte.
»Was ist mit Dejah Thoris? Warum möchte sie nicht mit mir reden?« platzte ich heraus.
Soja schien selbst etwas durcheinander zu sein, denn solch merkwürdiges Gebaren seitens zweier Menschen war ihr offenbar einfach zuviel.
»Sie behauptet, du habest sie verärgert. Mehr möchte sie nicht sagen, außer, daß sie die Tochter eines Jed und die Enkelin eines Jeddaks ist und von einer Kreatur beleidigt wurde, die nicht einmal die Zähne des Soraks ihrer Großmutter putzen könnte.«
Ich dachte eine Weile über diese Äußerung nach und fragte schließlich: »Was ist denn ein Sorak, Sola?«
»Ein kleines Tier von der Größe meiner Hand, was sich die roten Marsfrauen halten, um damit zu spielen«, erklärte Sola.
Außerstande, die Zähne der Katze ihrer Großmutter zu putzen! Dejah Thoris muß ziemlich wenig von dir halten, dachte ich. Dennoch brachte mich die seltsame Redensart zum Lachen, sie klang so vertraut, als stamme sie von der Erde. Ich bekam Heimweh, denn sie klang fast wie: »...ich würde ihm nicht einmal ihre Schuhe putzen lassen.« Nun kamen mir völlig neue Gedanken. Ich fragte mich, was meine Leute zu Hause wohl gerade taten. Seit Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen. Es gab eine Familie Carter in Virginia, enge Verwandte, ich war wohl der Großonkel oder etwas ähnlich Albernes. Überall hielt man mich für fünfundzwanzig oder dreißig Jahre, und es erschien mir völlig absurd, daß ich ein Großonkel sein sollte, denn meine Gedanken und Gefühle waren die eines Jungen. Die Carters hatten zwei kleine Kinder, die ich liebte, und die davon überzeugt waren, daß es auf der ganzen Welt niemanden gab wie Onkel Jack. Ich sah sie deutlich vor mir, als ich im Mondlicht in Barsoom stand, und ich sehnte mich nach ihnen, wie ich mich noch nie zuvor nach jemandem gesehnt hatte. Von Natur aus Weltenbummler, hatte ich niemals den wahren Sinn des Wortes Zuhause kennengelernt, doch die große Vorhalle der Carters hatte immer für all das gestanden, was das Wort mir bedeutete. Bei den kalten und unfreundlichen Menschen, in deren Mitte mich das Schicksal geworfen hatte, wandte sich mein Herz nun diesem Zuhause zu. Denn verachtete mich nicht sogar Dejah Thoris? Ich war eine nichtswürdige Kreatur, so nichtswürdig, daß sie mich nicht einmal die Zähne der Katze ihrer Großmutter putzen lassen würde. Dann rettete mich zum Glück mein Sinn für Humor. Lachend wandte ich mich auf meinem Lager aus Seidentüchern und Fellen um und schlief auf dem mondbeschienenen Boden den Schlaf des müden und gesunden Kämpfers.