Ohne auf eine Einladung zu warten, stürmte ich die Wendeltreppe hoch und betrat einen großen Raum auf der Vorderseite des Hauses. Woola begrüßte mich stürmisch und warf sich mit ganzem Gewicht auf mich, so daß ich beinahe umkippte. Der wackere Geselle freute sich derart über das Wiedersehen, daß ich glaubte, er wolle mich auffressen. Er grinste koboldartig übers ganze Gesicht und entblößte dabei die drei Reihen Stoßzähne bis zu den Ohren.
Ich beruhigte ihn mit einem Wort und einer Liebkosung und versuchte fieberhaft, Dejah Thoris im Halbdunkel ausfindig zu machen. Da ich sie nicht sehen konnte, rief ich sie beim Namen. Ein Murmeln aus einer Ecke des Raumes war die Antwort. Mit einigen schnellen Schritten war ich bei ihr. Sie hockte auf einem altertümlichen, geschnitzten Holzstuhl inmitten von Fellen und Seidentüchern. Da ich wartete, erhob sie sich, blickte mir in die Augen und sagte: »Was möchte Dotar Sojat, Thark, von seiner Gefangenen Dejah Thoris?«
»Dejah Thoris, ich weiß nicht, womit ich dich verärgert habe. Es lag mir völlig fern, dich zu verletzen oder zu beleidigen, wo ich dich beschützen und trösten wollte. Wenn es dein Wille ist, bekommst du mich nicht mehr zu Gesicht. Aber laß mich dir bei der Flucht behilflich sein, sofern diese im Rahmen des Möglichen liegt, und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Wenn du dann am Hof deines Vaters bist, kannst du mit mir nach Belieben verfahren. Bis dahin bin ich jedoch dein Gebieter, dem du gehorchen und helfen wirst.«
Sie blickte mich lange sehr ernst an, und ich hatte den Eindruck, daß sie sich mir gegenüber etwas öffnete.
»Deine Worte verstehe ich, Dotar Sojat, doch nicht ihren Sinn«, entgegnete sie. »Du bist eine seltsame Mischung aus Kind und Mann, Grobian und Edelmann. Ich wünschte, ich könnte in deinem Herzen lesen.«
»Sieh zu deinen Füßen, Dejah Thoris, dort liegt es seit jener Nacht in Korad. Es wird allein für dich so lange schlagen, bis der Tod es für immer zum Schweigen bringt.«
Sie trat ein Stück auf mich zu, die Hände in einer seltsamen, tastenden Geste ausgestreckt.
»Was meinst du damit, John Carter?« flüsterte sie. »Was willst du damit sagen?«
»Ich spreche aus, was ich mir geschworen hatte, dir nicht zu sagen, zumindest solange du eine Gefangene der grünen Menschen bist, und was ich dir nach deinem Verhalten mir gegenüber in den letzten zwanzig Tagen niemals sagen wollte. Dejah Thoris, ich bin mit Leib und Seele der deine, ich will dir dienen, für dich kämpfen und sterben. Als Gegenleistung bitte ich nur um eines: Daß du mit keiner Miene und keinem Zeichen deinen Unwillen oder dein Einvernehmen zu erkennen gibst, bis du bei deinem Volk bist, und daß du darauf achtest, deine Gefühle nicht von Dankbarkeit beeinflussen zu lassen, welcher Art sie auch immer sein mögen. Denn was ich für dich tue, geschieht einzig und allein aus selbstsüchtigen Motiven, da ich mehr Freude daran habe, dir zu dienen, als nichts zu tun.«
»Ich respektiere deinen Wunsch, John Carter, und da ich verstehen kann, warum du so handelst, nehme ich deine Dienste ebenso gern an, wie ich mich dir unterordne. Dein Wort soll mein Gesetz sein. Zweimal habe ich dir in Gedanken unrecht getan, und wieder bitte ich dich um Vergebung.«
Dem weiteren persönlichen Gespräch wurde durch Solas Erscheinen Einhalt geboten, die sehr aufgeregt war, ganz im Gegensatz zu ihrem gewöhnlich ruhigen, beherrschten Wesen.
»Diese fürchterliche Sarkoja war bei Tal Hajus«, rief sie aus. »Nach allem, was ich auf dem Platz vernommen habe, gibt es für keinen von euch Hoffnung.«
»Was sagen sie denn?« erkundigte sich Dejah Thoris.
»Daß ihr bald den wilden Calots (Hunden) in der Arena vorgeworfen werdet, sobald sich die Horden zu den alljährlichen Spielen versammelt haben.«
»Sola, du bist eine Thark, doch du haßt und verachtest die Bräuche deines Volkes ebenso wie wir«, sagte ich. »Möchtest du uns nicht auf unserer Flucht begleiten? Ich bin überzeugt, Dejah Thoris könnte dir bei ihrem Volk eine Heimat und Schutz bieten, und dich kann dort kein schlimmeres Schicksal erwarten als hier.«
»Ja«, rief Dejah Thoris. »Komm mit, Sola. Bei den roten Menschen von Helium wird es dir besser ergehen als hier, und ich kann dir bei uns nicht nur ein Heim versprechen, sondern all die Liebe und Zuneigung, nach denen sich dein Inneres sehnt und welche die Bräuche deines Volkes dir immer versagen werden. Komm mit uns mit, Sola. Wir könnten ohne dich fliehen, doch dann erwartet dich ein schreckliches Schicksal, da sie glauben werden, du wärest uns bei der Flucht behilflich gewesen. Ich weiß, daß du dich uns selbst aus dieser Befürchtung heraus nie in den Weg stellen würdest, doch wir möchten dich bei uns haben. Du sollst uns ins Land des Sonnenscheins und der Glückseligkeit begleiten, zu einem Volk, das die Bedeutung der Worte Liebe, Mitgefühl und Dankbarkeit kennt. Sag, daß du mitkommst, bitte!«
»Der große Wasserweg, der nach Helium führt, befindet sich nur fünfzig Meilen südlich von hier«, murmelte Sola halb zu sich selbst. »Ein schnelles Thoat braucht dafür drei Stunden. Von dort sind es noch fünfhundert Meilen bis Helium. Der Weg führt meist durch dünn besiedeltes Gebiet. Das wissen sie, und sie würden uns verfolgen. Wir könnten uns eine Zeitlang zwischen den großen Bäumen verstecken, doch die Chancen sind in der Tat sehr gering. Sie würden uns bis zu den Toren von Helium nachstellen und auf Schritt und Tritt ihren tödlichen Tribut fordern, ihr kennt sie nicht.«
»Gibt es keinen anderen Weg nach Helium?« fragte ich. »Kannst du mir das Land einmal grob skizzieren, das wir durchqueren müssen, Dejah Thoris?« Sie nahm sich einen großen Diamant aus dem Haar und zeichnete auf dem Marmorboden die erste Karte von Barsoom, die ich zu sehen bekam. Kreuz und quer durchs Land verliefen lange gerade Linien, teilweise parallel, dann trafen sie sich wiederum bei einem großen Kreis. Diese Linien, sagte Dejah Thoris, seien Wasserstraßen, die Kreise Städte, und einen weit nordwestlich von uns gelegenen bezeichnete sie als Helium. Es gab auch Städte in geringerer Entfernung, doch viele davon fürchtete sie aufzusuchen, da nicht alle Helium freundlich gesonnen waren.
Nachdem wir im hereinfallenden Mondlicht die Karte sorgfältig studiert hatten, wies ich schließlich auf eine Wasserstraße weit nördlich von uns, die auch nach Helium zu führen schien.
»Kommt man auf diesem Weg nicht auch zu deines Großvaters Territorium?« fragte ich.
»Ja, aber sie befindet sich zweihundert Meilen nördlich von uns, es ist eine der Wasserstraßen, die wir auf der Reise nach Thark überquert haben«, antwortete sie.
»Sie werden nie vermuten, daß wir uns dorthin begeben«, entgegnete ich. »Deswegen denke ich, daß das der beste Fluchtweg ist.«
Sola stimmte mir zu, und wir entschieden, Thark noch an diesem Abend zu verlassen, besser gesagt, so schnell, wie ich meine Thoats finden und satteln konnte. Sola würde auf dem einen reiten, Dejah Thoris und ich auf dem anderen, und jeder sollte Lebensmittel und Wasser für zwei Tage mitnehmen, denn bei einer solchen Entfernung konnten wir die Tiere nicht allzu sehr antreiben.
Sola und Dejah Thoris sollten sich auf einer der weniger bevölkerten Straßen zur südlichen Stadtgrenze begeben, wo ich sie mit den Thoats so bald wie möglich treffen wollte. Dann verließ ich sie, damit sie die nötigen Lebensmittel sowie die Seidentücher und Pelze zusammenpacken konnten. Lautlos schlüpfte ich hinunter ins Erdgeschoß und betrat den Innenhof, wo unsere Tiere wie immer vor Anbruch der Nacht ruhelos umherstreiften.
Die Thoats und Zitidars waren sowohl im Schatten der Gebäude als auch draußen im hellen Mondschein anzutreffen, die Dickhäuter gaben leise Kehllaute von sich, die Thoats gelegentlich scharfe Schreie, ein Zeichen jener Wut, die diese Kreaturen während ihres ganzen Daseins beherrscht. Sie waren nur ruhiger, wenn niemand bei ihnen war. Als sie mich jedoch witterten, wurden sie nervös und stießen ihre widerlichen Rufe weitaus häufiger aus. Es war riskant, sich nachts mutterseelenallein in ein Gehege von Thoats zu wagen. Erstens, weil die zunehmende Lautstärke den in unmittelbarer Nähe befindlichen Kriegern mitteilen würde, daß etwas nicht in Ordnung sei; zweitens, weil irgendein riesiger Bulle sich aus geringstem oder gar keinem Anlaß einfallen lassen könnte, anzugreifen.