»Deine Aussagen sind höchst bemerkenswert«, sagte mein unsichtbarer Gastgeber zum Schluß. »Offenbar sprichst du die Wahrheit, und ebenso klar ist, daß du nicht von Barsoom stammst. Das kann ich nach dem Aufbau deines Gehirns, der seltsamen Anordnung deiner inneren Organe sowie der Größe und Form deines Herzens sagen.«
»Kannst du durch mich hindurchblicken?« rief ich aus.
»Ja, ich sehe alles außer deinen Gedanken, und wärest du von Barsoom, könnte ich auch diese lesen.«
Dann öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite der Halle, und ein seltsames, vertrocknetes kleines Männchen kam auf mich zu. Es trug nur ein einziges Kleidungs- oder Schmuckstück, einen kleinen goldenen Kragen, von dem ein tellergroßes Ornament bis zur Brust herabhing. Dieses war dicht mit riesigen Diamanten besetzt. In seiner Mitte befand sich ein eigenartiger Stein von einem Zoll Durchmesser, von dem neun verschiedenartige Strahlen ausgingen, und zwar außer in den sieben Farben, wie sie auf der Erde ein Prisma wirft, noch in zwei wunderschönen und mir unbekannten. Ihr Aussehen genauer zu schildern fällt ebenso schwer, als erkläre man einem Blinden die rote Farbe. Ich weiß nur, daß sie äußerst faszinierend waren.
Der kleine alte Mann setzte sich und unterhielt sich mit mir einige Stunden lang, wobei mich an unserem Gespräch am meisten verblüffte, daß ich jeden einzelnen seiner Gedanken lesen konnte, während er nicht das geringste von meinen Überlegungen zu erraten vermochte, sofern ich sie nicht aussprach.
Ich verschwieg ihm, daß ich in der Lage war, seine Gedankenzüge mitzuverfolgen, und erfuhr so viele Dinge, die mir später von großem Nutzen sein sollten und von denen ich niemals Kenntnis erhalten hätte, wenn er von meiner seltsamen Fähigkeit gewußt hätte, denn die Marsmenschen haben ihren Denkapparat derart unter Kontrolle, daß sie ihre Gedanken mit absoluter Genauigkeit zu steuern vermögen.
In dem Gebäude, in dem ich mich aufhielt, befand sich die Anlage, die die künstliche Atmosphäre herstellt, die das Leben auf dem Mars aufrechterhält. Das Geheimnis des ganzen Prozesses liegt in der Verwendung des neunten Strahles, eines jener wunderschönen Lichtbögen, die ich von dem großen Stein im Ornament meines Gastgebers hatte ausgehen sehen.
Dieser Strahl wurde von den anderen gebrochenen Sonnenstrahlen durch exakt eingestellte Instrumente getrennt, die sich auf dem Dach des riesigen Gebäudes befanden, welches zu drei Vierteln als Speicher für den neunten Strahl dient. Er wird dann elektrisch behandelt, beziehungsweise mit bestimmten Anteilen verfeinerter elektrischer Schwingungen vermischt; das Endprodukt wird in die fünf größten Luftzentren des Planeten geleitet, wo es dann freigelassen und durch den Kontakt mit dem Äther des Himmels in atmosphärisches Gas umgewandelt wird.
Es wird immer ausreichend Licht des neunten Strahls in dem großen Gebäude gespeichert, um die Atmosphäre auf dem Mars für eintausend Jahre aufrechtzuerhalten. Die einzige Sorge bestand nach Aussage meines neuen Freundes darin, daß es bei der Anlage zu einem Unfall kam.
Er führte mich in einen anderen Raum, wo ich einen Satz von zwanzig Radiumpumpen erblickte, von denen eine jede den Mars mit dem atmosphärischen Gas versorgen konnte. Seit achthundert Jahren beaufsichtigte er nun schon diese Pumpen, die abwechselnd einen vollen Tag lang in Betrieb waren, etwas mehr als vierundzwanzig und eine halbe Erdenstunde. Ein Gehilfe teilte mit ihm die Aufsicht. Ein halbes Marsjahr, das sind ungefähr dreihundertundvierundvierzig Erdentage, verbringen die Männer allein in dieser riesigen, abgelegenen Fabrik. Jedem roten Marsmensch werden in der Kindheit die Prinzipien der Herstellung von atmosphärischem Gas erklärt, aber nur zwei Menschen kennen das Geheimnis des Zugangs zu dem Bauwerk, das mit seinen einhundertundfünfzig Fuß dicken Wänden absolut uneinnehmbar ist. Sogar das Dach ist durch ein fünf Fuß dickes Glas vor Luftangriffen gesichert.
Das einzige, was sie befürchteten, waren Angriffe grüner oder irgendwelcher irrer roter Marsmenschen, denn alle Einwohner von Barsoom wußten, daß das Dasein jeder Form von Leben vom ungestörten Betrieb dieser Fabrik abhing.
Mir fiel etwas Interessantes auf, als ich seine Gedanken beobachtete: Die Handhabung der Außentüren erfolgte durch telepathische Mittel. Die Schlösser sind derart fein eingestellt, daß sich die Türen nur durch eine bestimmte Kombination von Gedankenwellen öffnen ließen. Um meine neue Entdeckung auszuprobieren, wollte ich ihn dazu verleiten, diese Kombination zu verraten, und fragte ihn beiläufig, wie er es zustande gebracht hatte, mir die massiven Türen von den Innenräumen aus zu öffnen. Blitzschnell durchzuckten neun Marslaute sein Gehirn, die ebenso schnell verklangen, und er antwortete, daß das ein Geheimnis sei, das er nicht enthüllen dürfe.
Von diesem Augenblick an änderte sich seine Haltung mir gegenüber, als befürchte er, daß man ihm sein großes Geheimnis entlockt habe. Ich las Mißtrauen und Furcht in seinen Blicken und Gedanken, obwohl er sich mir gegenüber noch immer freundlich verhielt.
Bevor ich mich zur Nachtruhe zurückzog, versprach er, mir einen Brief an einen Landwirtschaftsbeamten mitzugeben, der mir auf dem Weg nach Zodanga, der nächstgelegenen Stadt auf dem Mars, behilflich sein könnte.
»Aber vergiß nicht: Sie dürfen nicht erfahren, daß du nach Helium willst, denn zwischen ihnen herrscht Krieg. Mein Gehilfe und ich stammen aus keinem Volk, wir gehören ganz Barsoom, und dieser Talisman, den wir tragen, beschützt uns überall, sogar unter den grünen Menschen – obwohl wir uns nicht in ihre Nähe wagen, wenn es zu vermeiden ist.« Dann fügte er hinzu: »Nun gute Nacht, mein Freund, ich wünsche dir einen erholsamen und langen Schlaf, vor allem einen langen.«
Obwohl er dabei freundlich lächelte, las ich in seinen Gedanken die Einsicht, daß er mich besser nicht hätte einlassen sollen. Dann sah ich ihn, wie er sich des Nachts über mich beugte, mir mit dem langen Dolch einen kurzen Stoß versetzte, dabei murmelte: »Es tut mir leid, aber es ist das beste für Barsoom.«
Als er die Tür meines Gemaches schloß, entzogen sich mir mit ihm gleichzeitig seine Gedanken. Dies kam mir mit meinen geringen Kenntnissen über Gedankenübertragung seltsam vor.
Was sollte ich tun? Wie konnte ich diesen mächtigen Mauern entkommen? Ich könnte ihn mühelos töten, nun, da ich gewarnt war. Doch wenn er tot war, konnte ich nicht mehr fliehen, und mit dem Aussetzen der Maschinen in der großen Fabrik würde ich gleich allen anderen Einwohnern des Planeten zugrunde gehen – Dejah Thoris gleichfalls, sofern sie überhaupt noch lebte. Auf die übrigen Menschen legte ich nicht den geringsten Wert. Doch der Gedanke an sie trieb mir jeglichen Mordgedanken gegenüber meinem dem Irrglauben verfallenen Gastgeber aus.
Vorsichtig öffnete ich die Tür meines Raumes und begab mich, gefolgt von Woola, auf die Suche nach der innersten der großen Türen. Ich hatte einen kühnen Plan gefaßt: Ich wollte versuchen, die großen Schlösser mit Hilfe der neun Gedankenwellen zu öffnen, die ich im Gehirn meines Gastgebers gesehen hatte.
Lautlos schlich ich durch einen Gang nach dem anderen, Treppen hinab, die sich einmal in die eine, einmal in die andere Richtung wandten, bis ich schließlich in der Halle ankam, wo ich am Morgen meine Fastenzeit beendet hatte. Nirgendwo erblickte ich meinen Gastgeber, noch wußte ich, wo er sich des Nachts aufhielt.
Ich wollte gerade in den Saal treten, als mich ein leises Geräusch in eine dunkle Nische des Ganges zurückweichen ließ. Ich zog Woola hinter mir her und hockte mich hin.
Bald kam der alte Mann dicht an mir vorbei, und als er in den schwach erhellten Raum bog, den ich gerade hatte betreten wollen, sah ich einen langen, dünnen Dolch in seiner Hand, den er auf einem Stein zu wetzen begann. Seine Gedanken verrieten mir, daß er sich entschlossen hatte, erst die Radiumpumpen zu kontrollieren, was etwa dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde, um sich dann in mein Schlafgemach zu begeben und mich umzubringen.