»Oh.« Tony schien sich nach einer geheimen Enttäuschung in sich zu verschließen. Seine blauen Augen schnellten empor und sondierten Leo aufs neue. »Wenn eines der Sprungschiffe der Firma Rodeo verläßt — wohin fährt es da zuerst?«
»Das kommt vermutlich darauf an, wo es gebraucht wird. Einige fliegen direkt die ganze Strecke bis zur Erde. Mit Fracht oder Passagieren für einen anderen Bestimmungsort ist der erste Halt für gewöhnlich die Orient-Station.«
»Die Orient-Station gehört nicht Galac-Tech, nicht wahr?«
»Nein, sie gehört der Regierung von Orient IV. Allerdings hat Galac-Tech ein gutes Viertel davon geleast.«
»Wie lange braucht man, um von Rodeo zur Orient-Station zu kommen?«
»Oh, gewöhnlich etwa eine Woche. Du wirst wahrscheinlich dort schon recht bald haltmachen, und wenn auch nur, um zusätzliche Geräte und Nachschub aufzunehmen, wenn du zu deinem ersten Bauauftrag geschickt wirst.«
Der Junge wirkte jetzt umgänglicher; vielleicht dachte er über seine erste interstellare Reise nach. Das war besser. Leo entspannte sich leicht.
»Ich freue mich darauf, Sir.«
»So ist’s recht. Wenn du dir nur in der Zwischenzeit nicht deinen Fuß… äh… deine Hand abschneidest, nicht wahr?«
Tony zog den Kopf ein und grinste. »Ich werde versuchen, das nicht zu tun, Sir.«
Und worum war es jetzt bei dem Ganzen gegangen? fragte sich Leo, während er beobachtete, wie Tony zur Tür hinaussegelte. Gewiß dachte der Junge doch nicht daran, seinen eigenen Weg zu gehen? Tony hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie monströs er außerhalb seines vertrauten Habitats wirken würde. Wenn er sich doch nur etwas mehr öffnen würde…
Leo scheute vor dem Gedanken zurück, ihn offen zur Rede zu stellen. Alle Planetarier im Personal des Habitats schienen zu glauben, daß sie ein Anrecht auf die privaten Gedanken der Quaddies hatten. In den Unterkünften der Quaddies gab es nirgendwo eine Tür, die man abschließen konnte. Sie hatten soviel Privatsphäre wie Ameisen unter Glas.
Leo schüttelte die kritischen Gedanken ab, aber sein Unbehagen konnte er nicht abschütteln. Sein ganzes Leben lang hatte er sein Vertrauen in seine eigene technische Integrität gesetzt — wenn er diesem Stern folgte, dann würden seine Füße nicht straucheln. Inzwischen war dies eine tief eingewurzelte Gewohnheit, er hatte diese technische Integrität fast automatisch in den Unterricht von Tonys Arbeitskolonne eingebracht. Und doch… diesmal schien das nicht ganz auszureichen. Als hätte er die Antwort auswendig gelernt, um dann zu entdecken, daß die Frage geändert worden war.
Aber was konnte man von ihm noch mehr verlangen? Was konnte man von ihm noch mehr erwarten? Was konnte letztlich ein einzelner Mann tun?
Ein Anfall vager Furcht ließ ihn blinzeln. Die scharf konturierten Sterne im Aussichtsfenster verschwammen, während der drohende Schatten des Dilemmas am Horizont seines Bewußtseins wie eine Wolke aufstieg. Mehr…
Er zitterte und drehte der Weite seinen Rücken zu. Sie konnte einen Mann verschlingen, gewiß.
Ti, der Kopilot des Frachtshuttles, hielt die Augen geschlossen. Vielleicht war das bei Gelegenheiten wie dieser natürlich, dachte Silver, während sie sein Gesicht aus einer Entfernung von zehn Zentimetern studierte. Bei diesem Abstand konnten ihre Augen die stereoskopischen Bilder nicht mehr koordinieren, und so überlappte sein zwiefaches Gesicht sich selbst. Wenn sie nur richtig schielte, dann konnte sie ihn so aussehen lassen, als hätte er drei Augen. Männer waren ziemlich fremdartig. Aber das lag nicht an dem metallenen Kontakt, der in seine Stirn implantiert war, wie die beiden anderen in den Schläfen; er wirkte mehr wie ein Schmuck oder ein Rangabzeichen. Sie kniff abwechselnd eines der beiden Augen zu und erzielte damit den Effekt, daß sein Gesicht in ihrem Blickfeld vor- und zurückgeschoben wurde.
Ti öffnete die Augen einen Moment lang, und Silver trat schnell wieder in Aktion. Sie lächelte, schloß selbst die Augen halb und nahm den Rhythmus ihrer biegsamen Hüften wieder auf. »Uuuh«, murmelte sie, wie Van Atta sie gelehrt hatte. Laß mich ein Feedback hören, Schatz, hatte Van Atta gefordert, und so hatte sie eine Auswahl von Lauten gefunden, die ihm zu gefallen schienen. Sie funktionierten auch bei dem Piloten, wenn sie sie bei ihm einsetzte.
Tis Augen schlossen sich wieder fest, seine Lippen öffneten sich, sein Atem ging schneller, und Silvers Gesicht entspannte sich wieder in nachdenklicher Ruhe. Sie war dankbar, daß sie nicht beobachtet wurde. Auf jeden Fall war Tis Blick für sie nicht so unbehaglich wie der von Mr. Van Atta, der immer nahezulegen schien, sie sollte es anders machen, oder intensiver, oder etwas ganz anderes.
Die Stirn des Piloten war feucht vom Schweiß, eine Locke seines braunen Haares klebte daran, neben dem glänzenden Kontakt. Mechanischer Mutant, biologische Mutantin, in gleicher Weise betroffen von unterschiedlichen Technologien; vielleicht war das der Grund, weshalb Ti damals gedacht hatte, er könne sich an sie heranmachen, da er selbst ein Außenseiter war. Zwei Monstrositäten, die sich zusammengetan hatten. Andrerseits, vielleicht war der Sprungpilot einfach nicht sehr wählerisch.
Er zitterte, keuchte krampfhaft und preßte sie dicht an seinen Leib. Eigentlich sah er — sehr verletzlich aus. Mr. Van Atta sah in diesem Augenblick nie verletzlich aus; Silver war sich nicht sicher, wonach er dann aussah.
Was hat er eigentlich davon, was ich nicht habe? überlegte Silver. Was stimmt denn mit mir nicht? Vielleicht war sie wirklich, wie Van Atta ihr einmal vorgeworfen hatte, frigide — ein unangenehmes Wort, es erinnerte sie an eine Maschinerie und an die Müllbehälter, die außen am Habitat angebracht waren —, und deshalb hatte sie gelernt, für ihn Laute von sich zu geben und lustvoll zu zucken, wenn er sich in ihr bewegte, und er hatte sie gelobt, weil sie lockerer würde.
Silver erinnerte sich daran, daß sie einen anderen Grund hatte, die Augen offenzuhalten. Sie blickte wieder am Kopf des Piloten vorbei. Das Beobachtungsfenster der abgedunkelten Steuerkabine, wo sie ihr Rendezvous abhielten, gab den Blick auf die Frachtladebucht frei. Der Bereitstellungsraum zwischen der Steuerkabine der Ladebucht und dem Eingang zur Luke des Frachtshuttles war dämmerig beleuchtet; nichts bewegte sich dort. Beeilt euch, Tony, Ciaire, dachte Silver besorgt. Ich kann diesen Burschen nicht die ganze Schicht beschäftigt halten. »Toll«, hauchte Ti, der aus seiner Trance auftauchte, seine Augen öffnete und grinste. »Als man euch für die Schwerelosigkeit entworfen hat, da hat man an alles gedacht.« Er löste seinen Griff von Silvers Schulterblättern und ließ seine Hände ihren Rücken hinabgleiten, um ihre Hüften herum und an ihren unteren Armen entlang, zuletzt gab er ihr einen anerkennenden Klaps auf ihre Hände, die seine muskulösen Planetarierschenkel umfaßt hielten. »Wirklich zweckmäßig.« »Wie macht ihr Planetarier es eigentlich, daß ihr nicht voneinander abprallt?«, forschte Silver neugierig und nutzte die Gelegenheit aus, daß sie einen offensichtlichen Experten für dieses Thema zur Hand hatte. Sein Grinsen wurde breiter. »Die Schwerkraft hält uns zusammen.«
»Wie seltsam. Ich habe die Schwerkraft mir immer als etwas vorgestellt, wogegen ihr die ganze Zeit ankämpfen müßt.«