»Er hat Tony niedergeschossen«, zischte Leo.
»Sie Idiot, ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten sie einfangen, nicht umbringen! Wie, zum Teufel, soll ich das…«, er winkte mit seinem Arm Gang 29 hinab, »unter den Teppich kehren? Und wozu, zum Teufel, hatten Sie überhaupt eine Pistole?«
»Sie haben gesagt — ich dachte…«, begann der Wachmann. »Ich schwöre Ihnen, ich werde dafür sorgen, daß Sie dafür gefeuert werden. Bei aller Unfähigkeit — haben Sie etwa geglaubt, das hier sei eine Art Feelie-Traumdrama? Ich weiß nicht, wessen Urteilsvermögen geringer ist, Ihres oder das des Blödmannes, der Sie eingestellt hat…«
Das Gesicht des Wachmannes hatte die Farbe gewechselt, statt rot war es jetzt weiß. »Warum, Sie blöder Scheißkerl, Sie haben mich doch dazu aufgehetzt…«
Irgendjemand sollte lieber einen kühlen Kopf bewahren, dachte Leo deprimiert. Bannerji hatte seine nicht zugelassene Waffe wiedergefunden und in sein Halfter gesteckt, was Van Atta nicht wahrzunehmen schien; die Versuchung, den Projektleiter über den Haufen zu schießen, durfte nicht zu verlockend werden, deshalb intervenierte Leo. »Meine Herren, darf ich vorschlagen, daß Sie Ihre Beschuldigungen und Ihre Verteidigung besser für eine förmliche Untersuchung aufheben, wo jedermann kühler und vernünftiger sein wird. In der Zwischenzeit haben wir uns um ein paar verletzte und verschreckte Kinder zu kümmern.«
Bannerji verstummte, obwohl er innerlich kochte ob der ihm angetanen Ungerechtigkeit. Van Atta knurrte zustimmend und begnügte sich mit einem düsteren Blick auf Bannerji, der nichts Gutes für die zukünftige Karriere des Wachmannes verhieß. Die beiden Sanitäter klappten die Räder von Tonys Trage herunter und begannen ihn den Korridor hinab zu ihrem wartenden Wagen zu rollen. Ciaire streckte eine ihrer Hände nach ihm aus und ließ sie dann ohne Hoffnung fallen.
Die Geste lenkte Van Attas Aufmerksamkeit auf sie. Voll von unterdrückter Wut entdeckte er ein Opfer, auf das er sie endlich entladen konnte. Er wandte sich Ciaire zu. »Du…!«
Sie zuckte zusammen und machte sich noch kleiner.
»Hast du eine Ahnung, was diese eure Eskapade das Cay-Projekt kosten wird, alles in allem? Von all den unverantwortlichen… — hast du Tony auf diese Idee gebracht?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen weiteten sich.
»Natürlich warst du es, ist es nicht immer so? Der Mann streckt seinen Kopf hinaus, das Weib sorgt dafür, daß er abgeschlagen wird…«
»O nein…« »Und das Timing — hast du absichtlich versucht, mich fertigzumachen? Wie hast du das mit dem Besuch der Vizepräsidentin herausbekommen — hast du gedacht, ich würde euer Abhauen vertuschen, bloß weil sie hier ist? Schlau, schlau — aber nicht schlau genug…«
In Leos Kopf, Augen und Ohren pulste das Blut. »Machen Sie mal Pause, Bruce. Sie hat schon genug abbekommen.«
»Das kleine Miststück ist schuld, daß Ihr bester Schüler beinahe umgebracht wurde, und Sie wollen sich für sie einsetzen? Können Sie zurück auf den Teppich, Leo.«
»Sie ist schon völlig durcheinander vor Angst. Hören Sie endlich auf!« »Sie hat auch allen Grund dazu. Wenn ich sie zum Habitat zurückgebracht habe…« Van Atta schritt an Leo vorbei, packte Ciaire an einem der oberen Arme und riß sie brutal hoch. Sie schrie auf und ließ Andy beinahe fallen. Van Atta nahm keine Rücksicht darauf. »Du wolltest nach unten auf den Planeten kommen, jetzt kannst du mal versuchen zu laufen, verdammt noch mal — los, zurück zum Shuttle!«
Später konnte sich Leo nicht mehr daran erinnern, ob er vor Van Atta gerannt war oder ihn herumgerissen hatte, um ihm ins Gesicht zu schauen; er hatte nur noch Van Attas überraschten Gesichtsausdruck und den offenstehenden Mund in Erinnerung. »Bruce«, schrie er durch einen roten Nebel hindurch, »Sie ekelhafter Schleimscheißer, hören Sie endlich auf!«
Der Aufwärtshaken gegen Van Attas Kinn, der diesen Befehl unterstrich, war überraschend wirkungsvoll, wenn man in Betracht zog, daß Leo jetzt zum erstenmal in seinem Leben einen Mann im Zorn geschlagen hatte. Van Atta fiel nach hinten auf den Beton.
Leo stürzte sich in einer Art verrückten Freude auf ihn. Jetzt würde er Van Attas Anatomie in einer Weise verdrehen, von der nicht einmal Dr. Cay je geträumt hatte… »He, Mr. Graf«, begann der Wachmann und berührte ihn unsicher an der Schulter. »Ist schon in Ordnung, ich habe schon seit Wochen darauf gewartet«, beruhigte ihn Leo und griff nach Van Attas Kragen.
»Darum geht es nicht, Sir…«
Eine kalte, unbekannte Stimme unterbrach ihn. »Faszinierende Managementtechnik. Ich muß mir Notizen machen.«
Vizepräsidentin Apmad, flankiert von ihrem fliegenden Gefolge an Wirtschaftsprüfern und Assistenten, stand hinter Leo in Gang 29.
KAPITEL 6
»Nun, es war nicht meine Schuld«, fauchte Chalopin, die Administratorin des Raumhafens. »Man hat mir nicht einmal gesagt, was los war.« Sie warf Van Atta einen finsteren Blick zu. »Wie soll ich meine Jurisdiktion ausüben, wenn andere Administratoren meine wohlüberlegt eingerichteten Befehlskanäle überspringen, unbekümmert meinen Leuten Befehle erteilen, ohne mich überhaupt zu informieren, die Regeln verletzen …« »Die Situation war außergewöhnlich. Der Zeitfaktor war wesentlich«, murmelte Van Atta trotzig.
Leo hatte insgeheim Verständnis für Chalopins Gereiztheit. Ihre glatte Routine war unterbrochen worden, ihr Büro hatte man abrupt für die Untersuchungen der Vizepräsidentin in Beschlag genommen — Apmad hielt nichts davon, Zeit zu verschwenden. Die offizielle Untersuchung des Vorfalls durch Galac-Tech hatte auf ihre Anweisung hin vor einer knappen Stunde in Gang 29 begonnen; es würde ihn überraschen, wenn sie noch mehr als eine weitere Stunde brauchte, um den Fall abzuschließen.
Die Fenster der Verwaltungsbüros von Shuttlehafen Drei, die gegen den inneren Druck des Gebäudes abgedichtet waren, rahmten ein Panorama des ganzen Raumhafenkomplexes ein — die Startbahnen, Ladezonen, Lagerhäuser, Büros, Hangars, Wohnheime der Arbeiter, und die Einschienenbahn, die von hier zu der Raffinerie, die am Horizont glitzerte, und zu den unheimlich zerklüfteten Bergen dahinter führte. Und das lebenswichtige Kraftwerk. Die Atmosphäre von Rodeo bestand aus Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid, aber in falschem Verhältnis und mit einem Druck, der für den menschlichen Stoffwechsel zu niedrig war. Die Belüftungsanlage arbeitete ständig daran, die Gasmischung ins richtige Verhältnis zu bringen und die Kontaminanten auszufiltern. Fünfzehn Minuten konnte draußen ein Mensch ohne Atemmaske überleben; Leo war sich nicht sicher, ob das als Sicherheitsspanne gemeint war oder einfach als langsamer Tod. Ganz gewiß war Rodeo keine Gartenlandschaft.
Bannerji hatte sich hinter die Administratorin des Shuttlehafens geschlichen. Er versteckt sich hinter ihr, dachte Leo. Vielleicht war das die beste Strategie für den Sicherheitsmann. Von ihren eleganten Schuhen über ihre makellose Galac-Tech-Uniform bis zu ihrer streng zurückgekämmten Frisur, wo kein einziges Haar am falschen Platz war, und zu ihrer entschlossenen, scharf gezeichneten Kinnpartie strahlte Chalopin Willen und Entschlossenheit aus, ihr Revier zu verteidigen.
Apmad, die bei dem Kampf die Schiedsrichterin spielte, war ein völlig anderer Typ. Untersetzt, schon hoch im mittleren Alter, das krause Haar kurz geschnitten — sie hätte irgend jemandes Großmutter sein können, wenn da nicht ihre Augen gewesen wären. Sie versuchte nicht, mit ihrer Kleidung auf Erfolg zu machen. Als hätte sie schon soviel Macht, daß sie über dieses Spiel hinaus war. Sie bemühte sich nicht, die Emotionen zu dämpfen; ihre lakonischen Kommentare hatten dazu gedient, Öl ins Feuer zu gießen, als wäre sie neugierig, was hier wohl an den Tag befördert würde. Ganz gewiß waren das nicht die Augen einer Großmutter …