Nur nehmen …
KAPITEL 8
Leo mußte eine Stunde umherpirschen, bevor er Silver allein antraf, in einem Korridor, der vom Turnraum kam, an einer Stelle, die nicht von einer Überwachungskamera erfaßt wurde.
»Gibt es hier einen Ort, wo wir privat reden können?«, fragte er sie. »Ich meine, wirklich privat.« Sie blickte sich vorsichtig um, was zeigte, daß sie ihn vollkommen verstanden hatte. Doch sie zögerte. »Ist es wichtig?«
»Lebenswichtig. Es geht um Leben oder Tod für jeden Quaddie. So wichtig ist es.«
»Gut … warten Sie hier eine Minute lang oder zwei und folgen Sie mir dann.«
Er folgte ihr langsam und beiläufig durch das Habitat, sah ihr schimmerndes Haar und ihr blaues Trikot kurz an dieser oder jener Kreuzung. In einem Korridor hatte er sie dann plötzlich verloren. »Silver …?«
»Pst!«, zischte sie in sein Ohr. Eine Wandplatte schwang sich lautlos nach innen, eine ihrer starken unteren Hände griff nach ihm und zog ihn herein wie einen Fisch an einer Angelschnur.
Nur einen Moment lang war es hinter der Wand dunkel und eng; dann öffnete sich leise eine luftdichte Tür und gab den Blick frei auf eine eigenartige Kammer mit einem Durchmesser von vielleicht drei Meter. Sie schlüpften hinein.
»Was ist das?«, fragte Leo überrascht.
»Das Clubhaus. Jedenfalls nennen wir es so. Wir haben es in diesem kleinen blinden Winkel gebaut. Von außen ist es nicht zu unterscheiden, es sei denn, man schaut genau aus dem richtigen Winkel darauf. Tony und Pramod haben die äußeren Wände gebaut Siggi hat die Rohrleitungen gelegt, andere haben die Verkabelung gemacht … die Luftdichtungen haben wir aus überzähligen Teilen zusammengebaut.«
»Hat man die nicht vermißt?«
Ihr Lächeln war keineswegs unschuldig. »Quaddies geben auch die Daten in den Computer ein. Die Teile hörten im Lagerverzeichnis einfach auf zu existieren. Eine Gruppe von uns arbeitete dabei zusammen — wir haben sie vor gerade zwei Monaten fertiggestellt. Ich war mir sicher, daß Dr. Yei und Mr. Van Atta davon erfahren würden, als sie mich befragten«, ihr Lächeln ging in einen finsteren Blick über, als sie sich daran erinnerte, »aber sie haben einfach nie die richtigen Fragen gestellt. Die einzigen Vids, die wir noch haben, sind die, die zufällig hier drinnen waren, und Darla hat das Vid-System noch nicht zum Laufen gebracht.«
Leo folgte ihrem Blick auf ein totes Holovid-Gerät, das an der Wand befestigt war und offensichtlich gerade repariert wurde. Es gab andere Annehmlichkeiten: Beleuchtung, praktische Gurte, einen Wandschrank voller kleiner Beutel mit getrocknetem Knabberzeug wie Rosinen, Erdnüsse und ähnlichem, das in der Ernährungsabteilung abgezweigt worden war. Leo machte langsam eine Runde durch den Raum und überprüfte nervös die Ausführung der Arbeiten. Alles war dicht. »War das deine Idee?«
»Irgendwie schon. Ich hätte es jedoch nicht allein geschafft. Verstehen Sie bitte, es ist strikt gegen unsere Regeln, daß ich Sie hier hereinbringe«, fügte Silver etwas trotzig hinzu. »Also sollten wir besser einen guten Grund dafür haben, Leo.«
»Silver«, sagte Leo, »deine einzigartig pragmatische Einstellung Regeln gegenüber macht dich im Augenblick zum wertvollsten Quaddie im Habitat. Ich brauche dich — deinen Mut und all die anderen Eigenschaften, die Dr. Yei zweifellos asozial nennen würde. Ich habe eine Arbeit zu tun, die ich nicht allein schaffe.«
Er holte tief Luft. »Wie würde es euch Quaddies gefallen, euren eigenen Asteroidengürtel zu haben?«
»Was?« Ihre Augen wurden groß.
»Brucie-Baby versucht es noch geheimzuhalten, aber man hat gerade beschlossen, daß das Cay-Projekt beendet wird — und das meine ich im unheilvollsten Sinn des Wortes.« Er berichtete ihr ausführlich von dem Gerücht über das Antischwerkraftgerät, alles, was er bisher gehört hatte, und Van Attas geheimen Plan für die Abschiebung der Quaddies. Mit zunehmender Leidenschaft beschrieb er seine Vision der Flucht. Er brauchte nichts zweimal zu erklären.
»Wieviel Zeit haben wir noch?«, fragte sie mit bleichem Gesicht, als er geendet hatte.
»Nicht viel. Höchstens ein paar Wochen. Ich habe nur sechs Tage, bis ich durch meinen Schwerkrafturlaub gezwungen bin, mich auf den Planeten zu begeben. Ich muß mir eine Möglichkeit ausdenken, wie ich den umgehen kann, denn ich befürchte, daß ich danach vielleicht nicht wieder hierher kommen kann. Wir — die Quaddies — müssen jetzt eine Wahl treffen. Und ich kann sie nicht für euch treffen. Ich kann euch nur bei einigen Teilen helfen. Wenn ihr euch nicht selbst retten könnt, dann seid ihr garantiert verloren.«
Mit einem leisen Pfiff stieß sie den Atem aus und sah wirklich beunruhigt drein. »Ich dachte — als ich Tony und Ciaire beobachtete —, daß sie es falsch anstellten. Tony redete davon, Arbeit zu finden, aber wissen Sie, daß er nicht daran dachte, einen Arbeitsanzug mitzunehmen? Ich wollte nicht die gleichen Fehler begehen. Wir sind nicht dafür geschaffen, allein zu reisen, Leo. Vielleicht ist das etwas, das zu unseren Anlagen gehört.«
»Aber schaffst du es, daß die anderen mitmachen?«, fragte Leo besorgt. »Im geheimen? Ich muß dir sagen, das schnellste Ende dieser kleinen Revolution, das ich mir vorstellen könnte, wäre, wenn ein Quaddie in Panik geriete und alles verraten würde, weil er lieb sein möchte. Das ist eine wirkliche Verschwörung, hier müssen alle Regeln außer acht bleiben. Ich opfere meinen Job und riskiere juristische Verfolgung, aber ihr riskiert viel mehr.«
»Es gibt einige, denen man es … hm … zuletzt mitteilen sollte«, sagte Silver nachdenklich. »Aber ich kann die wichtigen einweihen. Wir haben einige Methoden, um Dinge vor den Planetariern geheimzuhalten.«
Leo blickte sich in der Kammer um und fühlte sich beruhigt.
»Leo …« Ihre blauen Augen waren forschend auf ihn gerichtet. »Wie werden wir die Planetarier los?« »Nun, wir werden sie nicht mit dem Shuttle nach Rodeo hinunterschicken können, soviel ist sicher. Von dem Augenblick an, wo diese Sache publik wird, wird das Habitat vom Nachschub abgeschnitten, damit kannst du rechnen.« Belagert war das Wort, das Leo einfiel und das er sorgfältig vermied. »Die Methode, an die ich dachte, war, sie alle in einem Modul zu versammeln, dort etwas Notfall-Sauerstoff hineinzugeben, das Modul vom Habitat zu trennen und einen der Lastenschieber zu verwenden, um es im Orbit zu der Transferstation zu transportieren. Dann stellen sie für Galac-Tech ein Problem dar, nicht für uns. Ich hoffe, daß das die Dinge auf der Transferstation auch ein bißchen durcheinanderbringt und uns mehr Zeit gibt.«
»Wie wollen Sie alle in das Modul bringen?«
Leo zuckte verlegen. »Na ja, das ist der Punkt ohne Umkehr, Silver. Überall um uns herum gibt es Waffen, die wir nur nicht als solche erkennen, weil wir sie ›Werkzeuge‹ nennen. Eine Laserlötpistole, bei der die Sicherung entfernt ist, ist so gut wie eine Schußwaffe. In den Werkstätten gibt es ein paar Dutzend davon. Richte sie auf die Planetarier und sage: ›Bewegt euch!‹ — und sie werden sich in Bewegung setzen.«
»Was ist, wenn sie es nicht tun?«
»Dann mußt du auf sie feuern. Oder dich dafür entscheiden, nicht zu feuern, und dafür einen langsamen und sterilen Tod auf dem Planeten in Kauf nehmen. Und du triffst dann deine Wahl für alle, nicht nur für dich.«
Silver schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das eine so gute Idee ist, Leo. Was ist, wenn jemand in Panik gerät und tatsächlich feuert? Der Planetarier würde schrecklich verbrannt werden!«
»Nun … ja, das ist die Idee.«
Falten des Entsetzens gruben sich in ihr Gesicht. »Wenn ich auf Mama Nilla schießen müßte, dann würde ich lieber nach unten auf den Planeten gehen und sterben.« Mama Nilla war eine der beliebtesten Krippenmütter der Quaddies, erinnerte sich Leo verschwommen, eine große, ältere Frau — er war ihr bisher kaum begegnet, da sein Unterricht die jüngeren Quaddies nicht einbezog. »Ich dachte mehr daran, auf Bruce zu schießen«, bekannte Leo.