Er schwebte hinüber und landete in einer Ecke von Dr. Yeis Büro, das einen keilförmigen Grundriß hatte, blickte über ihren Schreibtisch, den Rücken einer flachen Innenwand zugekehrt, die Füße dort aufgestützt, wo ihre dicht mit Papieren und Plastikfolien besetzte Magnettafel eine Biegung machte. Yei preßte verärgert die Lippen aufeinander, als sie sich zu ihm umdrehte. Er brachte seine Beine in eine bequeme überkreuzte Stellung, wobei er absichtlich ihre Papiere durcheinanderbrachte — damit konnte er die Psychologin irritieren. Sie nahm jedoch den Köder nicht an und blickte wieder auf ihr Holovid-Display, und er zerknitterte noch ein paar Papiere. Schwaches Weib, dachte er. Es war eine Erleichterung für ihn, daß sie nur noch wenige Wochen zusammenarbeiten mußten und daß er sie nicht mehr bei Laune zu halten brauchte.
»Also«, stichelte er, »wie weit sind wir?«
»Nun, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht — tatsächlich«, fügte sie ziemlich gehässig hinzu, »weiß ich nicht einmal, was Sie tun …«
Van Atta grinste anerkennend. Also konnte der Wurm doch noch zappeln. Einige Administratoren wären vielleicht von der angedeuteten Insubordination beleidigt gewesen; er gratulierte sich selber zu seinem Sinn für Humor.
»… aber bis jetzt habe ich etwa die Hälfte des Personals über ihren jeweiligen neuen Auftrag informiert.«
»Hat Ihnen jemand Schwierigkeiten gemacht? Ich spiele gern den Schurken, wenn nötig«, bot er nobel an, »und setze die unter Druck, die sich nicht kooperativ zeigen.«
»Alle sind natürlich ziemlich geschockt«, erwiderte sie, »jedoch glaube ich, Ihre … direkte Intervention wird nicht erforderlich sein.«
»Gut«, sagte er vergnügt.
»Ich glaube, es wäre besser gewesen, es ihnen allen auf einmal zu sagen. Diese Methode, die Information Stückchen- und tröpfchenweise herauszugeben, provoziert gerade die Art von Gerüchtemacherei, die am wenigsten wünschenswert ist.«
»Ja nun, jetzt ist es zu spät …«
Seine Worte wurden von dem überraschenden Geheul einer Alarmsirene unterbrochen, die über die Bordsprechanlage ertönte. Yeis Holovid wurde abrupt vom Notfallkanal der Abteilung Zentrale Systeme überlagert.
Eine heisere männliche Stimme, ein angespanntes Gesicht — guter Gott, es war Leo Graf — meldeten sich auf dem Display.
»Notfall, Notfall«, rief Graf — von wo aus rief er? —, »wir haben einen Notfall wegen Druckabfall. Das ist keine Übung. Alle Planetarier im Personal des Habitats sollen sich sofort in die gekennzeichnete Sicherheitszone begeben und dort bleiben, bis Entwarnung gegeben wird …«
Auf dem Holovid erschien ein vom Computer generierter Plan, der den kürzesten Weg von diesem Terminal zu den gekennzeichneten Sicherheitsmodulen zeigte — zu einem Modul, wie Van Atta sah. Scheiße, der Druckabfall mußte sich auf das gesamte Habitat erstrecken. Was, zum Teufel, war da los?
»Notfall, Notfall, das ist keine Übung«, wiederholte Graf.
Yei starrte ebenfalls mit großen Augen auf den Plan; jetzt sah sie mehr denn je wie ein Frosch aus. »Wie kann das sein? Das Abdichtungssystem soll doch den Problembereich vom Rest isolieren …«
»Ich wette, ich weiß es«, sprudelte Van Atta hervor. »Graf hat an der Struktur des Habitats herumgepfuscht, als Vorbereitung für die Demontage — ich gehe jede Wette ein, er oder seine Quaddies haben gerade etwas ganz prächtig verpfuscht. Wenn nicht dieser Idiot Wyzak etwas angestellt an … an — los, kommen Sie!«
»Notfall, Notfall«, leierte Grafs Stimme weiter, »das ist keine Übung. Alle Planetarier im Personal des Habitats sollten sofort zu … — Scheißkerl!« Sein Kopf schoß herum, verschwand und hinterließ nur den drängend pulsierenden Plan auf dem Display.
Van Atta schob Yei, deren Blick immer noch an dem Plan auf dem Terminal hing, zu ihrer Bürotür hinaus, dann durch die luftdichten Türen am Ende des Moduls, die eigentlich hätten geschlossen sein sollen, aber noch offen waren. Die Türen schienen halboffen stehengeblieben zu sein, die Steuerung funktionierte nicht und war nutzlos, während Van Atta und Yei sich einem plappernden Strom von Planetariern anschlossen, die sich eilends in Sicherheit begaben. Van Atta schluckte und verfluchte seine Nasennebenhöhlen, als ein Ohr aufsprang, während das andere verstopft blieb und pochte. Eine vom Adrenalin ausgelöste Unruhe bebte in seinem Magen.
Als sie im Vortragsmodul C ankamen, war es schon vollbesetzt mit Planetariern in jedem denkbaren Stadium der Bekleidung und Entkleidung. Eine Frau vom Küchenpersonal hatte eine Schachtel mit tiefgefrorenen Lebensmitteln unter den Arm geklemmt — Van Atta lehnte die Vorstellung ab, daß sie über eine Insiderinformation über die Dauer des Notfalles verfügte, und kam zu dem Schluß, daß sie die Schachtel einfach in Händen gehabt hatte, als der Alarm losging, und daß sie nicht daran gedacht hatte, sie fallen zu lassen, als sie floh.
»Schließt die Tür!«, heulte ein Chor von Stimmen, als die Gruppe mit Van Atta und Yei in das Modul kam. Ein deutlich erkennbarer Luftzug seufzte an ihnen vorüber, stieg zu einem Pfeifen an und verstummte abrupt, als die Türen sich schlossen.
Chaos und Stimmengewirr herrschten jetzt in dem voll besetzten Modul.
»Was ist los?«
»Fragen Sie Wyzak.«
»Er ist bestimmt da draußen und unternimmt was.« »Wenn nicht, dann sollte er sich lieber hinausbegeben, verdammt noch mal …«
»Sind alle hier?«
»Wo sind die Quaddies? Wie steht es um die Quaddies?«
»Die haben ihren eigenen Sicherheitsbereich; der hier ist nicht groß genug.«
»Wahrscheinlich ihr Turnraum.«
»Für sie habe ich über das Holovid keine Anweisungen gehört, daß sie sich in den Turnraum begeben sollen oder sonst wohin …«
»Versuchen Sie es mal mit dem Kommunikator.«
»Die Hälfte der Kanäle ist tot.«
»Können Sie nicht einmal die Systemzentrale erreichen?«
»Lady, ich bin von der Systemzentrale …«
»Sollten wir uns nicht abzählen? Weiß jemand genau, wie viele von uns im Augenblick im Habitat Dienst tun?« »Zweihundertzweiundsiebzig, aber wie kann man wissen, welche fehlen, weil sie in der Falle sitzen, und welche, weil sie draußen sind und sich mit der Sache befassen …?« »Lassen Sie mich an diese verdammte Kommunikatoreinheit …«
»TÜREN ZU!« Diesmal stimmte Van Atta halb unwillkürlich in den Chor ein. Der Druckunterschied wurde deutlicher. Er war froh, daß er nicht zu spät gekommen war. Wenn das so weiterging, dann würde es binnen kurzem seine Pflicht werden, dafür zu sorgen, daß die Türen um jeden Preis geschlossen blieben, egal, wer von der anderen Seite daran klopfte, um eingelassen zu werden. Er hatte eine kleine Liste … Nun ja, wem die Geistesgegenwart fehlte, schnell auf Notfallinstruktionen zu reagieren, der sollte sich nicht auf einer Raumstation befinden. Es galt das Gesetz vom Überleben der Tüchtigsten.
Falls sie bis jetzt nicht die ganzen zweihundertzweiundsiebzig zusammengebracht hatten, so kamen sie doch sicher dieser Zahl nahe. Van Atta bahnte sich seinen Weg durch die wogende Menge zur Mitte des Moduls und stahl dabei dem einen oder anderen etwas Schwung, wodurch diese Personen verdrängt wurden. Ein paar drehten sich um und wollten protestieren, sahen dann, wer sie angestoßen hatte, und schluckten ihre Beschwerden hinunter. Jemand hatte die Verkleidung der Kommunikatoreinheit abgenommen und blickte frustriert in ihr Inneres; ihm fehlten die empfindlichen Diagnosegeräte, die zweifellos irgendwo im Habitat zurückgelassen worden waren. »Können Sie nicht wenigstens den Turnraum der Quaddies erreichen?«, wollte eine junge Frau wissen. »Ich muß wissen, ob meine Klasse es dorthin geschafft hat.« »Nun, warum sind Sie dann nicht mit ihnen gegangen?«, versetzte der Reparateur spöttisch.