Zeit. Die Sekunden schienen wie Insekten über Leos Haut unter seinem Anzug dahinzukrabbeln. Die restliche Gruppe der evakuierten Planetarier mußte bald die verwirrte erste Schar einholen und beginnen, mit ihnen ihre Beobachtungen zu vergleichen. Es würde danach nicht mehr lange dauern, war Leos Schluß, bis Galac-Tech anfangen mußte, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Man brauchte keinen Ingenieur, um tausend Arten der Verwundbarkeit des Habitats zu entdecken. Die einzige Option, die den Quaddies jetzt blieb, war schnelle Flucht.
Phlegmatische Ruhe, rief sich Leo ins Gedächtnis, war der Schlüssel, um hier lebend herauszukommen. Erinnere dich daran. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. »In Ordnung, Bobbi, Pramod, packen wir’s an. Bereitet die Notfall-Abschaltungen an beiden Enden vor, und wir werden dieses Monster ummanövrieren …«
KAPITEL 13
Seine Mitflüchtlinge traten vor ihm beiseite, als Bruce Van Atta aus dem Andockrohr in die Ankunftshalle für Passagiere auf dem Shuttlehafen Drei von Rodeo stürmte. Er mußte einen Moment innehalten und die Hände auf die Knie stützen, um einen Schwindelanfall zu überstehen, der von seiner abrupten Rückkehr zur Gravitation des Planeten ausgelöst wurde. Schwindel und Wut.
Einige Stunden lang, während des Fluges in dem abgetrennten Vortragsmodul durch den Orbit von Rodeo, war sich Van Atta entsetzlich sicher gewesen, daß Graf vorhatte, sie alle umzubringen, trotz des Gegenbeweises der Atemmasken. Falls dies ein Krieg war, dann würde aus Graf nie ein guter Soldat werden. Selbst ich bin nicht so dumm, einen Mann so zu demütigen und ihn dann am Leben zu lassen. Es wird dir leidtun, Graf, daß du mich hinters Licht geführt hast; noch mehr wird es dir leidtun, daß du mich nicht umgebracht hast, als sich dir die Gelegenheit dazu bot. Mühsam zügelte er seine Wut. Van Atta hatte sich selbst an Bord des ersten verfügbaren Shuttles beordert, das von der mit der überraschenden Ankunft von fast dreihundert unerwarteten Gästen überlasteten Transferstation hinab zum Planeten flog. In den zwanzig Stunden, seit die Luftschleuse des abgetrennten Vortragsmoduls nach nervenaufreibenden Pannen und Verzögerungen endlich mit der eines Personaltransporters der Station verbunden worden war, hatte er nicht geschlafen. Er und die anderen Angestellten vom Cay-Habitat hatten ihr überfülltes mobiles Gefängnis verlassen und waren zur Transferstation übergesetzt worden, wo noch mehr Zeit verschwendet wurde.
Informationen! Seit sie aus dem Cay-Habitat vertrieben wurden, war fast ein ganzer Tag vergangen. Er brauchte Informationen. Er bestieg ein Gleitrohr und machte sich auf den Weg zum Verwaltungsgebäude von Shuttlehafen Drei, wo sich auch das Kommunikationszentrum befand. Hinter ihm plapperte weinerlich Dr. Yei, er schenkte ihr nur wenig Aufmerksamkeit.
Er erblickte an der Plexiplastikwand des Rohres sein eigenes schwankendes Spiegelbild, während er über das Rollfeld des Shuttlehafens transportiert wurde. Abgespannt. Er richtete sich auf und zog seinen Bauch ein. Es wäre nicht gut, wenn er vor anderen Administratoren geschlagen oder schwach wirkte. Die Schwachen waren dem Untergang geweiht.
Er blickte durch sein bleiches Ebenbild hindurch über den Shuttlehafen, der unter ihm lag. Am anderen Ende der Rollbahn, neben dem Terminal der Einschienenbahn, wurden schon Frachtbehälter gestapelt. Ach ja: die verdammten Quaddies waren auch ein Glied in dieser Kette. Ein schwaches Glied, ein zerbrochenes Glied, das bald ersetzt werden würde.
Er kam im Kommunikationszentrum zur gleichen Zeit an wie die Chefadministratorin des Shuttlehafens Drei, Chalopin. Ihr folgte ihr Sicherheitsoffizier, wie hieß er noch? Ach ja, dieser Idiot Bannerji. »Was, zum Teufel, ist hier los?«, versetzte Chalopin ohne Vorrede. »Ein Unfall? Warum haben Sie nicht um Unterstützung gebeten? Man hat uns angewiesen, alle Flüge zurückzuhalten — jetzt haben wir einen beträchtlichen Rückstau des Produktionsausstoßes, die halbe Strecke bis zur Raffinerie.«
»Halten Sie sie weiter zurück. Oder setzen Sie sich mit der Transferstation in Verbindung. Die Beförderung Ihrer Fracht gehört nicht zu meinem Ressort.«
»O doch! Seit einem Jahr untersteht das Rangieren der Fracht im Orbit der Leitung des Cay-Projekts.«
»Verswchsweise.« Er runzelte gereizt die Stirn. »Das mag zu meinem Ressort gehören, aber im Augenblick ist das nicht meine größte Sorge. Hören Sie, Gnädigste, ich habe es hier mit einer umfassenden Krise zu tun.« Er wandte sich an einen der Kommunikatortechniker: »Können Sie mich überhaupt zum Cay-Habitat durchstellen?« »Sie beantworten unsere Anrufe nicht«, sagte Kommunikatortechniker unschlüssig. »Fast die gesamte reguläre Telemetrie ist abgeschaltet.«
»Versuchen Sie irgendetwas. Wegen mir auch eine Sichtung durch ein Teleskop.«
»Ich kann vielleicht eine Bildaufzeichnung von einem der Comsats abrufen«, sagte der Techniker. Er kehrte murmelnd zu seiner Steuertafel zurück. Nach ein paar Minuten präsentierte sein Bildschirm eine zweidimensionale Fernsicht des Cay-Habitats, aus einer synchronen Umlaufbahn gesehen. Er verstärkte die Vergrößerung.
»Was machen die denn dort?«, fragte Chalopin, während sie auf den Bildschirm schaute.
Van Atta starrte ebenfalls darauf. Was für ein wahnsinniger Vandalismus war da am Werk? Das Habitat ähnelte einem komplexen dreidimensionalen Puzzle, das von einem gelangweilten Kind zerlegt worden war. Abgetrennte Module schienen achtlos verstreut zu sein und schwebten in allen möglichen Winkeln im Raum. Winzige silbrige Figuren düsten zwischen ihnen hin und her. Die Solarkollektoren waren mysteriöserweise auf ein Viertel ihrer normalen Größe zusammengeschrumpft. War Graf vielleicht auf irgendeinen irren Plan verfallen, das Habitat gegen Gegenangriffe zu befestigen? Nun, das würde ihm nichts nützen, schwor sich Van Atta schweigend.
»Bereiten die sich … auf eine Belagerung oder sowas vor?«, fragte Dr. Yei laut. Sie hatte offensichtlich ähnliche Überlegungen angestellt. »Gewiß müssen sie doch erkennen, wie nutzlos das ist …«
»Wer weiß, was dieser verdammte Idiot Graf denkt?«, knurrte Van Atta. »Der Mann ist verrückt geworden. Es gibt ein Dutzend Methoden, wie wir diese Installation aus einer Entfernung in Stücke sprengen können, und das auch ohne militärische Unterstützung. Oder wir warten einfach und hungern sie aus. Sie sind in ihre eigene Falle getappt. Der Mann ist nicht nur verrückt, er ist auch dumm.«
»Vielleicht«, sagte Yei unsicher, »wollen sie einfach dort oben im Orbit ruhig weiterleben. Warum nicht?«
»Den Teufel werden sie! Ich hole sie dort raus, und zwar ganz schnell. Irgendwie … Kein Haufen jämmerlicher Mutanten wird mit einer Sabotage dieses Ausmaßes ungeschoren davonkommen. Sabotage — Diebstahl — Terrorismus …«
»Sie sind keine Mutanten«, begann Yei, »sie sind genetisch produzierte Kind…« »Mr. Van Atta, Sir?«, meldete sich ein anderer Kommunikatortechniker. »Ich habe eine dringende Nachricht für Sie auf meinem allgemeinen Verteiler. Können Sie sie hier übernehmen?« Yei, die dadurch unterbrochen worden war, hob frustriert die Hände.
»Was jetzt?«, murmelte Van Atta und setzte sich vor die Kommunikatoreinheit.
»Es ist eine aufgezeichnete Botschaft vom Manager der Frachtrangierstation draußen am Sprungpunkt. Ich werde sie aufrufen«, sagte der Techniker. Das ihm beiläufig bekannte Gesicht des Managers der Sprungpunktstation erschien vor Van Atta auf dem Schirm.