Leo grinste und dachte über die Kette an Reichtum nach, die da durch den Raum schwebte. So faszinierend das Cay-Habitat auch war, so war es doch zweifellos nur ein Anhängsel am Ganzen von Galac-Techs Rodeo-Unternehmen. Eine einzige Beschleuniger-Ladung von Frachtbehältern, wie die, die jetzt gerade zusammengebündelt wurde, konnte einer ganzen Stadt von aktienbesitzenden Witwen und Waisen ein ganzes Jahr lang einen angemessenen Lebensstandard sichern. Die Grundstoffproduktion war wie eine umgekehrte Pyramide: die Leute an der nach unten gerichteten Spitze ernährten einen breiter werdenden Berg von Zinsempfängern, eine Tatsache, die bei Leo gewöhnlich mehr geheimen Stolz als Irritation auslöste.
»Mr. Graf?«, unterbrach eine Altstimme seine Gedanken. »Ich bin Dr. Sondra Yei. Ich leite die Psychologie- und Schulungsabteilung von Cay-Habitat.«
Die Frau, die in der Türöffnung schwebte, trug einen blaßgrünen Overall der Gesellschaft. Auf angenehme Weise häßlich und auf das mittlere Alter zugehend, hatte sie die strahlenden mongolischen Augen, die breite Nase, die breiten Lippen und die milchkaffeefarbene Haut ihrer gemischtrassigen Herkunft. Mit den genauen, entspannten Bewegungen der an die Schwerelosigkeit Gewöhnten schob sie sich durch die Öffnung.
»Ach ja, man hat mir gesagt, daß Sie mit mir sprechen wollen.« Leo wartete höflich darauf, daß sie sich festhielt, bevor sie sich die Hände schüttelten. Er zeigte auf den Televiewer. »Ich habe hier eine schöne Aussicht auf die Zusammenstellung der Fracht im Orbit. Es scheint mir, daß das vielleicht eine weitere Aufgabe für Ihre Quaddies wäre.«
»Tatsächlich machen sie es jetzt schon ein Jahr.« Yei lächelte befriedigt. »Sie finden es also nicht zu schwierig, sich an die Quaddies anzupassen? Das hat ja schon Ihr psychologisches Profil nahegelegt. Schön.«
»Oh, die Quaddies sind in Ordnung.« Leo hielt sich zurück und ließ sich nicht über sein Unbehagen aus. Er war nicht sicher, ob er es überhaupt in Worte fassen konnte. »Ich war am Anfang bloß überrascht.« »Das ist verständlich. Sie glauben also nicht, daß Sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu unterrichten?« Leo lächelte. »Sie können kaum schlimmer sein als die Mannschaft von Schauerleuten, die ich auf der Jupiter-Orbitalstation Nr. 4 unterrichtet habe.«
»Ich hatte nicht an Schwierigkeiten von den Quaddies gedacht.« Yei lächelte wieder. »Sie werden entdecken, daß sie sehr intelligente und aufmerksame Schüler sind. Aufgeweckt. Gute Kinder, ganz buchstäblich. Und darüber möchte ich mit Ihnen reden.« Sie hielt inne, als würde sie ihre Gedanken zusammenstellen wie die entfernten Frachtschubschiffe ihre Behälter.
»Die Lehrer und Trainer von Galac-Tech nehmen hier in der Habitat-Familie eine Elternrolle ein. Obwohl sie selbst elternlos sind, müssen die Quaddies eines Tages selbst… — in der Tat werden schon einige von ihnen Eltern. Von Anfang an haben wir uns Mühe gegeben sicherzustellen, daß sie über Rollenmodelle für stabile erwachsene Verantwortlichkeit verfügen. Aber sie sind noch Kinder. Sie werden Sie genau beobachten. Ich möchte, daß Sie sich dessen bewußt sind und achtgeben. Sie werden noch mehr als nur das Schweißen von Ihnen lernen. Sie werden auch Ihre anderen Verhaltensmuster aufgreifen. Kurz gesagt, wenn Sie schlechte Gewohnheiten haben — und wir alle haben welche —, dann müssen sie unten auf dem Planeten geparkt werden, für die Dauer Ihres Aufenthalts hier. In anderen Worten«, fuhr Yei fort, »geben Sie auf sich acht. Geben Sie auf Ihre Sprache acht.« Ein unwillkürliches Lächeln ließ Fältchen um ihre Augen entstehen.
»Zum Beispiel benutzte jemand von unserem Krippenpersonal in irgendeinem Zusammenhang einmal die Redewendung ›Jetzt spuck’s schon aus!‹. Die Quaddies dachten nicht nur, das wäre sehr lustig, sondern es begann noch unter den Fünfjährigen eine Epidemie des Spuckens, und wir brauchten Wochen, um das wieder abzustellen. Nun, Sie werden mit viel älteren Kindern arbeiten, aber das Prinzip ist das gleiche. Zum Beispiel… äh… haben Sie persönliches Lese- oder Videomaterial mitgebracht? Vid-Dramas, Nachrichtendisketten, was auch immer.«
»Ich bin kein großer Leser«, gestand Leo. »Ich habe mein Kursmaterial mitgebracht.«
»Technische Informationen gehen mich nichts an. Aber wir haben in letzter Zeit ein Problem mit… hm… Romanen gehabt.«
Leo hob die Augenbrauen und grinste. »Pornographie? Ich weiß nicht, ob ich mir darüber Sorgen machen würde. Als ich ein Junge war, da tauschten wir…«
»Nein, nein, nicht Pornographie. Ich bin mir nicht sicher, ob die Quaddies Pornographie überhaupt verstehen würden. Die Sexualität ist hier ein offenes Thema, Teil ihrer Sozialerziehung. Biologie. Ich machte mir viel mehr Sorgen über Literatur, die falsche oder gefährliche Werte in attraktive Farben kleidet, oder über voreingenommene Geschichtsdarstellungen.«
Leo runzelte zunehmend bestürzt die Stirn. »Haben Sie diesen Kindern keine Geschichte beigebracht? Oder sie keine Erzählungen lesen lassen…?«
»Natürlich ja. Die Quaddies sind mit beidem gut versorgt. Es geht einfach um die richtigen Proportionen. Zum Beispieclass="underline" eine typische, für Planetenbewohner geschriebene Geschichtsdarstellung der Besiedlung von Orient IV widmet gewöhnlich etwa fünfzehn Seiten dem Jahr des Bruderkrieges, einer zeitweiligen, wenn auch bizarren, gesellschaftlichen Verirrung — und etwa zwei den tatsächlich rund hundert Jahren, die die Besiedlung und Erschließung dieses Planeten gedauert hat. Unser Text widmet dem Krieg nur einen Abschnitt. Aber der Bau der Einschienenbahn über den Graben von Witgow zusammen mit seinen nachfolgenden nützlichen ökonomischen Auswirkungen auf beide Seiten erhält fünf Seiten. Kurz gesagt, wir betonen eher das Gemeinsame als das Seltene, eher Aufbau als Zerstörung, das Normale auf Kosten des Abnormalen. Damit die Quaddies nie auf die Idee kommen, daß irgendwie von ihnen das Abnormale erwartet würde. Wenn Sie die Texte einmal lesen, dann werden Sie das Prinzip sehr schnell begreifen, glaube ich.«
»Ich… hm — ja, ich glaube, das sollte ich wohl«, murmelte Leo. Der Grad von Zensur, dem — nach Yeis kurzer Beschreibung zu schließen — die Quaddies unterworfen waren, erzeugte bei ihm eine Gänsehaut — und doch, die Vorstellung eines Geschichtsbuches, das ganze Kapitel großen Ingenieurleistungen widmete, weckte in ihm den Wunsch aufzustehen und ›hurra‹ zu rufen. Er verbarg seine Verwirrung hinter einem höflichen Lächeln. »Ich habe wirklich nichts an Bord mitgebracht«, erklärte er besänftigend.
Sie nahm ihn mit zu einer Besichtigung der Wohnquartiere und der beaufsichtigten Krippen der jüngeren Quaddies.
Die Kleinen machten Leo staunen. Sie schienen so viele zu sein — vielleicht einfach nur, weil sie sich so schnell bewegten. Etwa dreißig Fünfjährige hüpften im gravitationsfreien Turnraum wie ein Hagel verrückter Pingpongbälle umher, als ihre Krippenmutter, eine pummelige angenehme Planetarierin, die sie Mama Nilla nannten und der einige Quaddiemädchen im Teenageralter assistierten, sie aus der Lesestunde entließ. Aber dann klatschte sie in die Hände und stellte Musik an, und die Kleinen begannen mit einem Spiel oder einem Tanz (Leo war sich nicht sicher, was es genau war). Dabei warfen sie ihm viele Seitenblicke zu und kicherten. Es ging darum, in der Luft ein Duodekahedron zu bilden, wie eine menschliche Pyramide, nur komplexer, und dann im Rhythmus der Musik von Hand zu Hand die Formation zu verändern. Enttäuschte Schreie ertönten, wenn jemand sich vertat und die Formation der Gruppe störte. Wenn die Perfektion erreicht war, dann hatten alle gewonnen. Das Spiel gefiel Leo spontan. Dr. Yei beobachtete, wie Leo lachte, als die jungen Quaddies ihn danach umschwärmten, und sie schien zufrieden zu schnurren.
Aber am Ende des Rundgangs musterte sie ihn und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Mr. Graf, Sie sind immer noch beunruhigt. Sind Sie sicher, daß Sie all dem gegenüber nicht einfach noch etwas von dem alten Frankenstein-Komplex hegen? Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie es mir eingestehen — tatsächlich möchte ich sogar, daß Sie darüber reden.«