Rhonin klammerte sich fest am Nacken des Drachen. Er fühlte jede Vibration und hoffte, dass seine Hände ihn nicht im Stich lassen würden. Sein Rucksack schlug gegen seinen Rücken, prügelte auf ihn ein.
Endlich kam Korialstrasz zum Stehen. Das reptilische Gesicht wandte sich dem Zauberer zu. »Geht es dir gut?«
»Den … den Umständen entsprechend!«, keuchte Rhonin. Er war früher schon auf Drachen geflogen, aber noch nie eine so weite Strecke.
Entweder wusste Korialstrasz, dass sein Passagier noch erschöpft war, oder auch der Drache selbst benötigte eine Pause nach dem gewaltigen Flug. »Wir werden ein paar Stunden hier bleiben, unsere Kräfte sammeln. Ich nehme keine Veränderung in den Emanationen des … Phänomens wahr. Wir sollten genug Zeit haben, uns zu erholen. Das ist jetzt wahrscheinlich das Klügste.«
»Was das angeht, werde ich mich nicht mit dir streiten«, antwortete Rhonin und glitt vom Rücken des Giganten.
Der Wind blies schroff durch die Berge, und die hohen Spitzen warfen viel Schatten. Aber mit ein wenig Magie und im Schutze eines Felsüberhangs gelang es dem Zauberer, sich warm genug zu halten. Während er seinen steif gewordenen Körper streckte, schritt Korialstrasz auf den vor ihnen liegenden Pass zu und erkundete das Gelände. Das Ungetüm verschwand in einiger Entfernung, wo der Pfad sich hinter einer Kurve fortsetzte.
Die Kapuze über den Kopf gezogen, döste Rhonin. Dieses Mal waren seine Gedanken von guten Bildern erfüllt … wahren Bildern von Vereesa und der bevorstehenden Geburt. Der Zauberer lächelte und dachte an seine Rückkehr. Bald war er eingeschlafen.
Er erwachte durch sich nähernde Geräusche. Zu Rhonins Überraschung war es nicht der Drache Korialstrasz, der zu ihm zurückkehrte, sondern die in fließende Gewänder gehüllte Gestalt von Krasus.
Als Antwort auf die Frage in den geweiteten Augen des Menschen erklärte der Drachenmagier: »Es gibt mehrere instabile Stellen in der Nähe. In dieser Gestalt besteht weniger Gefahr, sie zum Kollabieren zu bringen. Ich kann mich jederzeit wieder verwandeln, falls dies notwendig werden sollte.«
»Hast du irgendetwas gefunden?«
Das nicht perfekt elfische Gesicht runzelte die Stirn. »Ich fühle den Aspekt der Zeit. Er ist hier, und doch ist er es nicht. Es ist verwirrend.«
»Sollten wir anfangen …«
Noch bevor Rhonin seinen Satz vollenden konnte, hallte ein schrilles Heulen durch die Bergkette. Der Laut ging dem Zauberer durch Mark und Bein, und selbst Krasus wirkte aufs Höchste beunruhigt.
»Was war denn das?«, keuchte Rhonin.
»Ich weiß es nicht.« Der Drachemagier richtete sich auf. »Wir sollten weitergehen. Unser Ziel ist nicht mehr fern.«
»Fliegen wir nicht?«
»Ich spüre, dass das, wonach wir suchen, in einem schmalen Pass zwischen den nächsten Bergen liegt. Ein Drache würde da nicht hinein passen, zwei schlichte Wandersleute schon.«
Krasus übernahm die Führung, und sie brachen in nordöstlicher Richtung auf. Rhonins Gefährte schien die Kälte nicht zu spüren, aber er, der Mensch, musste die Schutzzauber auf seiner Kleidung verstärken. Trotzdem fühlte er die Unwirtlichkeit des Landes auch weiterhin auf seinem Gesicht und an den Händen.
Es dauerte nicht lange, und sie erreichten den Anfang jenes Passes, von dem Krasus gesprochen hatte. Jetzt sah Rhonin, was der andere gemeint hatte. Der Pass war wenig mehr als ein enger Korridor. Ein halbes Dutzend Männer hätten Seite an Seite durch ihn hindurch marschieren können, ohne sich beengt zu fühlen, aber ein Drache hätte kaum seinen Kopf hineinzuquetschen vermocht, ganz zu schweigen von seinem riesigen Leib.
Die hohen Steilwände woben noch dunklere Schatten, und Rhonin fragte sich, ob sie nicht irgendeine Form von Licht benötigten, um diesen Weg sicher zu bewältigen.
Krasus schritt ohne Zögern weiter. Er war sich seines Zieles gewiss und marschierte immer zügiger, als könne er es kaum noch erwarten.
Der Wind heulte durch die Schlucht und wurde lauter und schriller, je weiter sie gingen. Rhonin musste sich anstrengen, um mit seinem früheren Mentor Schritt zu halten.
»Sind wir bald da?«, rief er schließlich.
»Bald. Es liegt nur …«
Krasus schwieg für einen Moment.
»Was ist?«
Der Drachenmagier lauschte konzentriert in sich hinein und runzelte der Stirn. »Es ist nicht … nun, es ist nicht mehr exakt dort, wo es eigentlich sein sollte.«
»Du meinst, es hat sich bewegt?«
»Davon gehe ich aus.«
»Ist es normal, dass es sich bewegt?«, fragte der Zauberer mit dem Feuerschopf und lugte den dunklen Pfad hinab, der vor ihnen lag.
»Du unterliegst dem Irrtum, dass ich genau wüsste, was uns erwartet, Rhonin. Ich weiß und verstehe nur wenig mehr als du selbst.«
Das gefiel dem Menschen überhaupt nicht. »Also, was schlägst du vor, sollen wir tun?«
Die Augen des Drachenmagiers glühten in einem inneren Feuer, als er über die Frage nachsann. »Wir gehen weiter. Das ist alles, was wir tun können.«
Aber nach nur kurzer Strecke stießen sie auf eine neue Art von Hindernis, eines, das Krasus aus der Luft nicht hatte erkennen können. Der Pass gabelte sich in zwei Richtungen, und obwohl es möglich war, dass die beiden Schluchten sich irgendwo voraus wieder verbanden, konnte das Paar nicht sicher davon ausgehen.
Krasus betrachtete beide Wege. »Sie verlaufen beide in der Nähe unseres Ziels, aber ich kann nicht spüren, welcher Pfad näher liegt. Wir werden sie beide versuchen müssen.«
»Trennen wir uns?«
»Ich würde es vorziehen, wenn wir dies vermeiden könnten, aber ja, wir müssen uns trennen. Wir werden beide fünfhundert Schritt weit unserem Pfad folgen, dann drehen wir um und treffen uns wieder hier. Hoffentlich haben wir dann herausgefunden, welcher Weg der Erfolgversprechendere ist.«
Rhonin nahm den Korridor zur Linken und folgte Krasus’ Anweisungen. Während er die Schritte abzählte, kam er bald zu dem Schluss, dass sein Weg Potenzial hatte. Nicht nur wurde der Pass vor ihm immer breiter, der Zauberer meinte auch, die Störung klarer als jemals zuvor spüren zu können. Obwohl Krasus’ magische Sinne schärfer als die seinen waren, hätte selbst ein Novize das Abnorme wahrnehmen können, das die vor ihm liegende Region durchdrang.
Trotz seiner Zuversicht kehrte Rhonin noch nicht um. Die Neugierde trieb ihn weiter.
Er hatte jedoch kaum mehr als einen weiteren Schritt getan, als er etwas Neues fühlte, etwas reichlich Verstörendes dazu. Rhonin hielt inne und versuchte zu bestimmen, was sich an der Anomalie plötzlich anders anfühlte.
Sie bewegte sich. Aber das war nicht alles.
Sie bewegte sich auf ihn zu … und zwar überaus schnell!
Er fühlte sie, bevor er sie sah. Es war, als würde alle Zeit zusammengepresst, dann gestreckt, dann wieder gequetscht … Rhonin fühlte sich alt, jung – und jeden Augenblick seines Lebens dazwischen. Überwältigt zögerte der Zauberer.
Und die Finsternis vor ihm löste sich in einem Kaleidoskop schillernder Farben auf, von denen er manche noch nie zuvor gesehen hatte. Eine ständige Explosion elementarer Energie erschütterte sowohl die leere Luft, als auch den festen Stein und erhob sich zu phantastischer Höhe. Rhonins begrenzter Geist erschien das Phänomen wie eine hoch aufragende, feurige Blume, die blühte, verwelkte und wieder erblühte … und mit jedem Aufblühen wurde sie größer.
Als sich das Phänomen näherte, kam der Magier schließlich wieder zu Sinnen. Er wirbelte herum und rannte los.
Geräusche dröhnten in seinen Ohren. Stimmen, Musik, Donner, Vögel, Wasser … alles.
Trotz seiner Furcht, dass es ihn einholen würde, fiel das rätselhafte Schauspiel hinter ihm zurück. Aber Rhonin hörte nicht auf zu laufen. Er fürchtete, dass es jederzeit vorstürmen und ihn verschlingen könnte.
Krasus hatte die letzte Verschiebung gewiss ebenfalls gespürt. Mit Sicherheit eilte er bereits zu Rhonin. Gemeinsam würden sie einen Wegen finden, um …