Als Malfurion weiter vorwärts schwebte, verwandelte sich seine Welt in ein leuchtendes, kristallenes Grün. Der Dunstschleier wurde dichter, aber die flüsternden Stimmen waren nun besser zu verstehen. Eine Landschaft schien ihn leise zu rufen.
Er war zu einem Teil des Grünen Traums geworden.
Malfurion folgte seinen Instinkten und schwebte der fließenden, sich ständig verändernden Traumlandschaft entgegen, die sich vor ihm öffnete. Wie Cenarius gesagt hatte, war sie so, wie die Welt ausgesehen hätte, wenn die Nachtelfen und die anderen intelligenten Wesen sie niemals betreten hätten. Es lag eine Ruhe im Grünen Traum, die es verlockend erscheinen ließ, für immer hier zu bleiben, aber Malfurion weigerte sich, dieser Versuchung nachzugeben. Er musste die Wahrheit über seine Träume erfahren.
Zunächst hatte er nicht die geringste Ahnung, wohin sein Unterbewusstsein ihn trug. Er hoffte jedoch, es würde ihn zu den Antworten führen, die er suchte. Malfurion flog über das leere Paradies hinweg, und was er sah, erfüllte ihn mit Staunen.
Aber dann, inmitten seiner wundersamen Reise, fühlte er wieder, dass etwas nicht stimmte. Der leichte Missklang, den er zuvor gespürt hatte, wurde stärker. Malfurion versuchte, ihn zu ignorieren, aber er nagte an ihm wie eine hungrige Ratte. Schließlich wandte er ihm seine Geistgestalt zu, und plötzlich lag vor ihm ein riesiger, schwarzer See. Malfurion fürchte die Stirn. Er war sich sicher, dass er die unheimlichen Wassermassen irgendwoher kannte. Dunkle Wellen leckten über die Ufer des Gewässers, und eine Aura der Macht strahlte von seinem Zentrum aus.
Die Quelle der Ewigkeit.
Doch wenn dies tatsächlich der Quell war, wo war dann die Stadt? Malfurion blickte in der Traumlandschaft dorthin, wo er wusste, dass eigentlich die Hauptstadt hätte liegen müssen, und versuchte, ein Bild von ihr heraufzubeschwören. Er war aus einem bestimmten Grund hierher gekommen, und jetzt glaubte er, dass dieser Grund etwas mit der Stadt zu tun hatte. Schon für sich allein war die Quelle der Ewigkeit etwas Erstaunliches, aber er war nur das Energiezentrum. Der Missklang, den der Nachtelf spürte, ging von einem anderen Ort aus.
Er starrte auf die leere Welt und verlangte, ihre Realität zu sehen.
Und ohne Vorwarnung materialisierte sich Malfurions Traum-Ich über Zin-Azshari, der Hauptstadt der Nachtelfen. In der alten Sprache bedeutete Zin-Azshari »Der Ruhm der Azshara«.
Das Volk der Nachtelfen hatten seine Königin, als sie den Thron bestieg, so geliebt, dass es darauf bestanden hatte, ihr zu Ehren die Hauptstadt umzubenennen.
Malfurion dachte an seine Königin, als er plötzlich den Palast selbst erblickte, ein prächtiges Gebäude hinter einer hohen, gut bewachten Mauer. Er runzelte die Stirn, denn er kannte diesen Ort gut, war es doch die Wohnstatt seiner Königin. Obwohl er gelegentlich die Fehler erwähnt hatte, die er an ihr wahrzunehmen meinte, bewunderte Malfurion sie in Wirklichkeit viel mehr, als die Meisten dachten. Im Großen und Ganzen hatte sie viel Gutes für ihr Volk getan, auch wenn er manches Mal das Gefühl hatte, dass Azshara das Gefühl für die wahren Bedürfnisse der Ihren verlor. Wie viele andere Nachtelfen hegte auch er den Verdacht, dass viele Probleme im Land zum größten Teil auf die Hochgeborenen zurückgingen, die das Reich in Azsharas Namen verwalteten.
Das Gefühl der Falschheit wurde stärker, je näher er an den Palast heran schwebte. Malfurions Augen weiteten sich, als er den Grund erkannte. Mit der Beschwörung der Vision Zin-Azsharis hatte er auch ein unmittelbareres Bild des Quells hervor geholt. Der schwarze See brodelte nun wild, und etwas, das aussah wie monströse Bänder aus vielfarbiger Energie schoss aus seinen Tiefen hervor. Mächtige Magie wurde aus dem Quell gezogen und in den höchsten Turm des Palastes geleitet. Der einzige vorstellbare Zweck eines solchen Unterfangens war das Weben eines Zaubers von ungeheuerlichem Ausmaß.
Die dunklen Wasser jenseits des Palastes bewegten sich mit solcher Gewalt, dass es für Malfurion aussah, als kochten sie. Je dringlicher die Zauberer im Turm die Macht des Quells beschworen, desto schrecklicher entlud sich die Wut der Elemente. Über Malfurion schrie und blitzte der sturmgepeitschte Himmel. Einige der Gebäude am Ufer des Quells drohten, von den riesigen Wellen fortgewaschen zu werden.
Was tun sie da?, fragte sich Malfurion, der seine eigene Suche vergessen hatte. Warum fahren sie selbst in der Schwäche des Tages mit ihrem Werk fort?
Aber »Tag« war hier nur noch ein Wort. Verschwunden war die Sonne, die die Fähigkeiten der Nachtelfen dämpfte. Obwohl der Abend noch nicht gekommen war, war es schwarz wie die Nacht über Zin-Azshari … nein, sogar noch schwärzer. Dies war nicht natürlich und auf jeden Fall nicht sicher. Womit spielten die Zauberer im Turm nur herum?
Malfurion trieb über die Mauern hinweg, vorbei an Wachen mit steinernen Gesichtern, die seine Gegenwart ignorierten. Malfurion schwebte auf den Palast selbst zu, aber als er versuchte, in ihn einzudringen – in der festen Überzeugung, dass seine Traumgestalt problemlos durch etwas so Einfaches wie Stein dringen würde –, stieß der Nachtelf auf eine undurchdringliche Barriere.
Jemand hatte den Palast mit Schutzzaubern umschlossen, die so komplex waren, so stark, dass er sie nicht zu durchdringen vermochte. Das machte Malfurion nur noch neugieriger, noch entschlossener. Er schwenkte um das Gebäude herum und flog ein weiteres Mal auf den fraglichen Turm zu. Es musste einfach einen Weg in ihn hinein geben. Malfurion musste sehen, was für ein Wahnsinn darin geschah.
Mit einer Hand tastete er nach der Phalanx der Schutzzauber, suchte den Punkt, der sie alle miteinander verband, den Punkt, an dem sie auch gelöst werden konnten …
… und ein plötzlicher, unvorstellbarer Schmerz begrub Malfurion unter sich. Seine Traumgestalt litt still, kein Laut hätte auch ihre Agonie ausdrücken können. Das Bild des Palastes, das Bild Zin-Azsharis … alles verschwand. Malfurion fand sich in einer grünen Leere wieder, gefangen in einem Sturm aus reiner Magie. Die elementaren Kräfte drohten, seine Traumgestalt in tausend Stücke zu reißen und sie in alle Richtungen zu verstreuen.
Aber mitten in dem monströsen Tumult hörte er plötzlich den schwachen Ruf einer vertrauten Stimme.
Malfurion … mein Kind … komm zurück zu mir … Malfurion … du musst zurückkehren …
Vage erkannte der Nachtelf Cenarius’ als den verzweifelten Rufer. Er klammerte sich daran ihn wie ein Ertrinkender inmitten eines sturmgepeitschten Meeres an ein winziges Stück Treibholz. Malfurion fühlte, wie der Geist der Waldgottheit nach ihm tastete, um ihn in die richtige Richtung zu führen.
Der Schmerz ließ nach, doch Malfurion war über alle Maßen erschöpft. Ein Teil von ihm wollte einfach nur noch zwischen den Träumern treiben, seine Seele wollte nie wieder in sein Fleisch zurückkehren. Doch er erkannte, dass dies sein Ende bedeutet hätte, und so kämpfte er gegen den tödlichen Wunsch an.
Und während der Schmerz schwand, während Cenarius’ Berührung stärker wurde, fühlte Malfurion wieder seine eigene Verbindung mit seinem sterblichen Leib. Er folgte dem Band eifrig, bewegte sich schneller und schneller durch den Grünen Traum …
Mit einem Keuchen erwachte der junge Nachtelf. Unfähig sich aufrecht zu halten, fiel er ins Gras. Starke und zugleich sanfte Hände brachten ihn wieder in eine sitzende Position. Wasser tropfte in seinen Mund.
Er öffnete die Augen und blickte in Cenarius’ besorgtes Gesicht. Der Waldgott hielt Malfurions Wasserschlauch.
»Du hast getan, was nur Wenigen anderen gelungen wäre«, murmelte sein Mentor. »Und indem du es tatest, hättest du dich beinahe selbst für immer verloren. Was ist mit dir geschehen, Malfurion? Du bist sogar aus meinem Blick entschwunden …«
»Ich … ich spürte … etwas Schreckliches …«
»Die Ursache deiner Alpträume?«
Der Nachtelf schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht … Ich … ich fand mich von Zin-Azshari angezogen …« Er versuchte zu beschreiben, was er gesehen hatte, aber Worte schienen ihm nicht in der Lage zu sein, die Vision zu beschreiben.