»Brox …«, setzte der jüngere Orc an.
Doch in diesem Moment füllte eine Vision ihr Blickfeld aus, ein feuriges Bild, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatten.
Der Schrecken nahm die ganze Breite des Passes ein und schien sogar in den Fels hinein zu fließen. Er erweckte nicht den Eindruck, lebendig zu sein, und doch bewegte er sich, als verfolge er ein Ziel. Geräusche – willkürliche, chaotische Laute – füllten die Ohren der Orcs, und als Brox in das Zentrum der Erscheinung blickte, fühlte er sich, als starre er in die Ewigkeit.
Orcs waren keine Wesen, die sich schnell ängstigten, aber die schaurige und gewiss magische Vision überwältigte die beiden Krieger. Brox und Gaskai erstarrten vor ihr und ahnten, dass diese Erscheinung gewiss nicht vor ihren Waffen weichen würde.
Brox hatte sich einen heldenhaften Tod gewünscht, nicht das hier. Es lag keine Ehre darin, auf solche Art zu sterben. Das Ding sah aus, als könne es ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Ohne ihn überhaupt zu bemerken. Wie eine Fliege.
Und so war die Entscheidung für ihn klar. »Gaskai! Beweg dich! Lauf!«
Doch Brox selbst gelang es nicht, seinem eigenen Befehl nachzukommen. Ja, er wirbelte herum, um fortzurennen. Aber er rutschte in dem glatten Schnee aus wie ein tölpelhaftes Kind. Der riesige Orc stürzte zu Boden und stieß sich den Kopf. Er verlor seine Axt, die außerhalb seiner Reichweite niederfiel.
Gaskai, der nicht mitbekommen hatte, was mit seinem Kameraden geschehen war, rannte nicht zurück, sondern warf sich zur Seite und fand in einer Vertiefung der Felswand Zuflucht. Er drückte sich gegen den kalten Stein und war offenbar der Ansicht, hier geschützt zu sein.
Brox erkannte Gaskais Fehleinschätzung. Er erhob sich auf die Knie und schrie: »Nicht da! Weg da!«
Doch die Kakophonie des kreischenden Chaos ertränkte seine Warnung, und die furchterregende Abnormität bewegte sich weiter voran … Brox sah mit Grausen, wie Gaskai von ihrem Rand erfasst wurde.
Tausend Schreie entströmten Gaskais Kehle, während er gleichzeitig älter und jünger wurde. Die Augen des Orcs traten hervor, als wollten sie aus seinem Schädel platzen, und sein Körper floss wie Wasser. Er dehnte sich aus, wurde kleiner, dehnte sich wieder aus …
Und mit einem letzten verzweifelten Schrei schrumpfte Gaskai in sich zusammen wie ein Stück Pergament, das von einer riesigen Hand zerknüllt wird. Er wurde kleiner und kleiner, bis er vollkommen verschwunden war.
»Bei der Horde!«, keuchte Brox, wie versteinert im Angesicht des Schreckens. Er starrte auf den Punkt, wo kurz zuvor sein jüngerer Gefährte gestanden hatte, und hoffte irgendwie immer noch, dass dieser wie durch ein Wunder unversehrt erscheinen würde.
Dann erkannte er plötzlich, dass auch er selbst nur wenige Atemzüge davon entfernt war, von der Monstrosität verschlungen zu werden.
Brox wirbelte herum, langte instinktiv nach seiner Axt und rannte. Er fühlte keine Scham ob seiner Flucht. Kein Orc konnte gegen dieses Ding kämpfen. Zu sterben, wie Gaskai gestorben war, wäre eine sinnlose Geste gewesen.
Doch so schnell der Orc auch lief, die flammende Vision war schneller. Während das Kreischen der Geräusche und Stimmen ihn beinahe taub machte, biss Brox die Zähne zusammen. Er wusste, er konnte dem Strudel nicht entkommen. Nicht mehr. Dennoch hastete er weiter …
Ihm gelangen nur noch zwei weitere Schritte, bevor die Monstrosität seinen Leib völlig verschlang.
Jeder Knochen, jeder Muskel, jeder Nerv in Krasus’ Körper brüllte, und letztlich gelang es ihm dadurch, sich aus dem schwarzen Abgrund der Bewusstlosigkeit empor zu kämpfen.
Was war geschehen? Der Drachenmagier wusste es noch immer nicht wirklich. Im einen Moment versuchte er, Rhonin zu erreichen, und im nächsten verschlang ihn die Anomalie – obwohl er überhaupt nicht in ihrer Nähe war. Seine mentale Verbindung zu dem Menschen hatte Krasus gemeinsam mit dem jungen Zauberer in das Phänomen hinein gezogen.
Wieder durchblitzten Bilder seinen verwirrten Geist. Landschaften, Kreaturen, Artefakte. Krasus hatte die Zeit in ihrem ultimativen Aspekt erlebt, alle Zeit auf einmal!
Aspekt? Dieses Wort beschwor eine andere machtvolle Vision herauf, die er glücklicherweise bis dahin vergessen hatte. Inmitten des wirbelnden Chaos der Zeit hatte Krasus einen Blick auf etwas erhascht, das sein Herz und all seine Hoffnungen zerschmetterte.
Dort, im Zentrum des wütenden Sturms, hatte er Nozdormu gesehen, den großen Aspekt der Zeit … gefangen wie eine Fliege im Netz der Spinne.
Nozdormu war in all seiner schrecklichen Glorie dort gewesen, ein gigantischer Drache, nicht aus Fleisch, sondern aus dem goldenen Sand der Ewigkeit gewoben. Seine edelsteingleichen Augen, die in der Farbe der Sonne leuchteten, waren weit offen gewesen, und dennoch hatten sie die unbedeutende Gestalt von Krasus nicht bemerkt. Der große Drache hatte sich in den Qualen von Kampf und Schmerz gewunden. Gefangen hatte er weiterhin darum gerungen, alles zusammen zu halten – absolut alles.
Nozdormu war sowohl Opfer als auch Retter. Treibend im sturmgepeitschten Ozean der gesammelten Zeit, hatte allein er verhindert, dass sie vollkommen aus den Fugen geriet. Wenn nicht der Aspekt gewesen wäre, das Gewebe der Realität wäre längst geborsten. Die Welt, die Krasus kannte, wäre für immer verschwunden. Schlimmer noch, sie würde niemals existiert haben.
Eine neue Welle aus Schmerz suchte Krasus heim. Er schrie in der alten Sprache der Drachen und verlor für einen Augenblick die Kontrolle, an die er so gewöhnt war. Doch mit dem Schmerz kam auch die Erkenntnis, dass er noch lebte. Dieses Wissen brachte ihn dazu, zu kämpfen, sich wieder zu vollem Bewusstsein zu zwingen …
Er öffnete die Augen.
Bäume begrüßten seinen Blick. Hoch aufragende Bäume mit grünen Kronen, die fast den Himmel verbargen. Ein Wald in voller Blüte und Lebendigkeit. Vögel sangen, während irgendwo andere Kreaturen raschelnd durch das Unterholz huschten. Vage nahm Krasus die untergehende Sonne und weiche, treibende Wolken wahr.
Die Landschaft war so friedlich, dass der Drachenmagier sich fast fragte, ob er nicht doch gestorben und ins Jenseits eingegangen war. Dann erweckte ein wenig himmlisches Geräusch seine Aufmerksamkeit, ein gemurmelter Fluch. Krasus blickte nach links.
Rhonin rieb sich den Hinterkopf, während er versuchte, sich ein wenig aufzurichten. Der Mensch mit Haaren wie Feuer war mit dem Gesicht nach unten nur wenige Yards von seinem früheren Mentor entfernt gelandet. Der Zauberer spuckte kleine Gras- und Erdbatzen aus, dann blinzelte er. Aus purem Zufall blickte er zuerst in Krasus’ Richtung.
»Was …?«, war alles, was er herausbrachte.
Krasus versuchte zu sprechen, aber aus seiner Kehle drang nur ein kränkliches Krächzen. Er schluckte. Dann versuchte er es noch einmal. »Ich … weiß nicht. Bist du … bist du irgendwie verletzt?«
Rhonin streckte Arme und Beine – und schnitt eine Grimasse. »Tut alles höllisch weh … aber … aber es scheint nichts gebrochen zu sein.«
Nach einer ähnlichen Prüfung gelangte der Drachenmagier für sich selbst zum gleichen Ergebnis. Dass sie so unversehrt angekommen waren, erstaunte ihn, aber er erinnerte sich an die Magie Nozdormus, die in der Anomalie gewirkt hatte. Vielleicht hatte der Aspekt der Zeit sie ja doch bemerkt und alles in seiner Macht Stehende beigetragen, um sie zu retten. Doch wenn dies der Fall war …
Rhonin rollte sich auf den Rücken. »Wo sind wir?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich habe das Gefühl, ich sollte diese Gegend kennen, aber …« Krasus musste innehalten, als er plötzlich von einem Schwindelgefühl übermannt wurde. Er fiel zurück auf den Boden und schloss die Augen, bis es vorbei war.
»Krasus? Was ist passiert?«
»Nichts … nichts Schlimmes … glaube ich. Ich habe mich nur noch nicht ganz von dem erholt, was uns widerfuhr. Meine Schwäche wird bald vorbei sein.« Doch ihm fiel auf, dass Rhonin bereits sehr viel erholter aussah, sich sogar aufsetzte und versuchte, die Glieder zu strecken. Warum überstand ein zerbrechlicher Mensch das Chaos der Anomalie besser als er?