Mit grimmiger Entschlossenheit setzte sich auch Krasus auf. Das Schwindelgefühl wollte ihn wieder überwältigen, aber der Drachenmagier kämpfte es nieder. Er versuchte, seinen Geist von seinen Sorgen abzulenken, und blickte sich ein weiteres Mal um. Ja, er spürte ganz eindeutig eine gewisse Vertrautheit mit dieser Umgebung. Irgendwann einmal hatte er diese Region besucht, aber wann?
Wann?
Die einfache Frage erfüllte ihn mit jähem Entsetzen. Wann …
Nozdormu gefangen in der Ewigkeit … alle Zeit von den Klauen der Anomalie zerfetzt …
Der dichte Wald und die wachsenden Schatten, die die sinkende Sonne schuf, machten es praktisch unmöglich, genug zu sehen, um die Gegend zu identifizieren. Er würde sich in die Luft erheben müssen. Ein kurzer Flug sollte risikolos sein. Dieses Gebiet erweckte nicht den Anschein, als gäbe es in der Nähe irgendwelche Siedlungen.
»Rhonin, du bleibst hier. Ich werde die Umgebung von oben erkunden. Ich bin bald zurück.«
»Ist das klug?«
»Ich fürchte, es ist absolut notwendig.« Ohne ein weiteres Wort hob Krasus seine Arme und begann sich zu verwandeln.
Oder besser: Er versuchte, sich zu verwandeln. Doch der Drachenmagier brach, von Schmerz und Schwäche überwältigt, zusammen. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als sei ihm das Innere nach außen gekehrt worden.
Starke Arme fingen ihn auf, als er fiel. Rhonin führte ihn vorsichtig zu einer weichen Stelle, dann half er seinem Gefährten, sich niederzusetzen.
»Bist du in Ordnung? Du siehst aus, als ob –«
Krasus schnitt ihm das Wort ab. »Rhonin … ich … ich konnte mich nicht verwandeln. Ich konnte mich nicht verwandeln!«
Der junge Zauberer runzelte die Stirn und verstand nicht. »Du bist noch schwach. Die Reise durch dieses Ding –«
»Aber du stehst auf deinen Beinen! Ich möchte dich nicht beleidigen, Mensch, aber das, was wir gerade hinter uns haben, hätte dich viel stärker mitnehmen sollen als mich.«
Der andere nickte. Er verstand. »Ich hatte nur angenommen, du hättest dich verausgabt, als du versuchtest, mich in diesem Phänomen am Leben zu erhalten.«
»Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. Sobald wir in die Anomalie hineingezogen waren, konnte ich nicht mehr für dich tun als für mich selbst. Und ich glaube, wenn Nozdormu nicht gewesen wäre …«
»Nozdormu?« Rhonins Augen weiteten sich. »Was hat er mit unserem Überleben zu schaffen?«
»Hast du ihn nicht bemerkt?«
»Nein.«
Der Drachenmagier holte tief Luft und beschrieb, was er gesehen hatte. Im Laufe seiner Worte wurde Rhonins Gesichtsausdruck zunehmend grimmiger.
»Unmöglich!«, stieß der Mensch schließlich hervor.
»Schrecklich«, korrigierte ihn Krasus. »Und jetzt muss ich dir noch etwas sagen. Auch wenn Nozdormu uns vor den barbarischen Kräften im Inneren der Anomalie gerettet hat, so fürchte ich, dass er uns nicht dorthin hat zurücksenden können, von wo wir gekommen sind … oder auch nur, von wann.«
»Du glaubst … du glaubst, wir befinden uns in einer anderen Zeit?«
»Ja … aber in welcher Ära … kann ich nicht sagen. Und ich habe auch keine Ahnung, wie wir wieder in unsere eigene Zeit zurückgelangen könnten.«
Rhonin ließ sich im Sitzen auf den Boden zurückfallen. Auf dem Rücken liegend, starrte in den leeren Raum vor seinen Augen. »Vereesa …«
»Fass Mut! Ich sagte, ich habe keine Ahnung, wie wir zurückkommen können, aber das heißt nicht, dass wir es nicht versuchen werden! Trotzdem müssen wir uns zunächst darum kümmern, etwas zu essen aufzutreiben … und wir müssen etwas über dieses Land in Erfahrung bringen. Wenn wir wissen, wo wir sind, können wir vielleicht auch herausbekommen, wo wir die Hilfe finden, die wir benötigen. Jetzt hilf mir hoch.«
Mit der Hilfe des Menschen kam Krasus wieder auf die Beine. Nach ein paar zögerlichen Schritten, erklärte er, das Weitergehen bewältigen zu können. Eine kurze Diskussion über die Richtung, die sie einschlagen sollten, endete damit, dass sie sich darauf einigten, sich nach Norden zu wenden, auf eine Reihe ferner Hügelkuppen zu. Dort sollten sie bis zum morgigen Tag in der Lage sein, weit genug über die Bäume zu blicken, um ein Dorf oder eine Stadt auszumachen.
Kaum eine Stunde, nachdem sie ihre Wanderung begonnen hatten, versank die Sonne hinter dem Horizont, aber das Paar zog weiter. Glücklicherweise hatte Rhonin in einer seiner Gürteltaschen noch ein paar kleine Rationen, und ein Busch, an dem sie vorbeikamen, lieferte ihnen eine Handvoll genießbarer, wenn auch saurer Beeren. Die kleinere, fast elfische Gestalt, die Krasus trug, benötigte weit weniger Nahrung als seine wahre Drachengestalt. Trotzdem war ihnen beiden klar, dass sie am nächsten Tag etwas kräftigere Kost finden mussten, wenn sie überleben wollten.
Die dickere Kleidung, die sie für die Berge getragen hatten, erwies sich als perfekt, um sie warm zu halten, sobald es dunkel geworden war. Krasus’ überlegenes Sehvermögen ermöglichte ihnen zudem, ziemlich sicher ihren Weg zu finden. Trotzdem kamen sie nur langsam voran, und der Durst begann sie zu plagen.
Schließlich führte sie ein leises, von Westen kommendes Plätschern zu einem kleinen Bach. Rhonin und Krasus knieten sich dankbar am Ufer nieder.
»Dank sei den Fünf«, erklärte der Drachenmagier, während sie tranken. Rhonin nickte schweigend und war viel zu sehr damit beschäftigt, den ganzen Bach zu leeren, um eine richtige Antwort zu geben.
Nachdem sie ihre Bäuche gefüllt hatten, lehnten sie sich zurück. Krasus wollte weitergehen, aber es war klar, dass weder er noch der Mensch die nötige Kraft dazu hatten. Sie würden die Nacht über hier rasten müssen und dann im ersten Morgenschimmer aufbrechen.
Als er dies vorschlug, stimmte Rhonin bereitwillig zu. »Ich glaube nicht, dass ich noch einen Schritt weiter gehen kann«, sagte der junge Zauberer. »Aber ich kann uns immer noch ein Feuer machen, wenn du möchtest.«
Die Idee eines Feuers war verlockend, aber etwas warnte Krasus davor. »Wir werden es in unseren Sachen warm genug haben. Ich würde es vorziehen, wenn wir die nächste Zeit lieber etwas übervorsichtig wären.«
»Du hast wahrscheinlich Recht. Nach allem, was wir wissen, könnten wir zu Zeiten der ersten Invasion der Horde angekommen sein.«
Das schien Krasus angesichts der Friedlichkeit dieses Waldes unwahrscheinlich, aber die Jahrhunderte hatten andere Gefahren hervorgebracht. Aber ihr gegenwärtiger Standort würde sie vor den meisten Kreaturen verbergen, die in ihrer Nähe vorbeikommen mochten. Ein kleiner Hügel bot sich zudem an, sich hinter ihm zu verstecken.
Ihre Erschöpfung war größer, als sie sich hatten eingestehen wollen, und sie schliefen fast sofort ein. Doch Krasus’ Schlaf wurde von unruhigen Träumen heimgesucht, in denen sich die kürzlichen Ereignisse widerspiegelten.
Wieder erschien ihm Nozdormu, der gegen das kämpfte, was sein eigentliches Wesen war. Der Drachenmagier sah alle Zeiten zu einem unlösbaren Knoten miteinander verwoben und mit jedem Augenblick, den die Anomalie weiter existierte, instabiler werdend.
Krasus sah auch etwas anderes, einen schwachen, aber feurigen Blick, fast wie Augen, die hungrig auf alles starrten, was sie ausmachen konnten. Der Drachenmagier wälzte sich in seinem Schlaf, während sein Unterbewusstsein versuchte, sich zu erinnern, warum ihm dieses Bild so schrecklich vertraut erschien …
Doch dann drang das leichte Klirren von Metall gegen Metall in die Bilder und zerstreute seine Träume, riss die Vision in Fetzen, als Krasus gerade kurz davor stand, sich zu entsinnen, wofür die flammenden Augen standen.
Er wollte sich gerade rühren, als Rhonins Hand sich fest über seinem Mund schloss. Früher in seinem langen, langen Leben hätte ein solcher Affront den Drachen dazu gebracht, der sterblichen Kreatur eine schmerzhafte Lektion in Sachen gute Manieren zu erteilen, aber jetzt hatte Krasus nicht nur mehr Geduld als in seiner Jugend, er hatte auch mehr Vertrauen.