Brox hatte nicht die geringste Absicht, einfach zu einem Nachtelf zu gehen und ihn nach dem Weg zu fragen. Auch wenn dies die gleichen Kreaturen waren, die sich mit den Orcs und den Menschen verbündet hatten, so konnte er sich nicht sicher sein, ob die Bürger dieser Nachtelfen-Provinz einem Eindringling freundlich begegnen würden. Bis er mehr wusste, plante der vorsichtige Orc, sich niemandem zu zeigen.
Obwohl Brox zunächst auf keine weiteren Behausungen traf, bemerkte er in der Ferne ein Leuchten, das höchstwahrscheinlich von einer größeren Siedlung stammte. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, packte der Orc seine Waffe fester und machte sich auf den Weg in diese Richtung.
Doch kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, als sich plötzlich Schatten aus der entgegengesetzten Richtung näherten. Brox presste sich flach gegen einen dicken Baum und beobachtete, wie sich zwei Reiter näherten. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er an Stelle guter Pferde schnelle, riesenhafte Panther erkannte, auf denen die Männer über den Pfad jagten. Der Orc knirschte mit den Zähnen und machte sich zum Kampf bereit für den Fall, dass entweder die Reiter oder ihre Tiere ihn bemerken würden.
Doch die gerüsteten Gestalten eilten an ihm vorbei, als müssten sie irgendeinen Ort sehr schnell erreichen. Sie schienen kein Problem damit zu haben, bei dem geringen Licht unterwegs zu sein, und plötzlich erinnerte sich der Orc daran, dass Nachtelfen in der Finsternis ebenso gut sehen konnten wie er am Tag.
Das ließ nichts Gutes erahnen. Orcs konnten auch bei Nacht ganz ordentlich sehen, doch nicht annähernd so gut wie Nachtelfen.
Er hob seine Axt. Vielleicht war er im Nachteil, was die Sicht anging, aber Brox würde gegen jede dieser dürren Klappergestalten seinen Mann stehen. Tag oder Nacht, eine Axt in der Hand eines Orc-Kriegers, der mit ihr umzugehen verstand, hatte stets den gleichen tiefen, tödlichen Biss. Selbst die prächtigen Rüstungen dieser Soldaten würden seiner geliebten Waffe nicht lange standhalten.
Als die Reiter außer Sicht waren, schlich Brox vorsichtig weiter. Er musste mehr über diesen speziellen Stamm der Nachtelfen herausfinden, und die einzige Möglichkeit, dies zu tun, bestand darin, ihre Siedlung auszuspionieren. Dort würde er hoffentlich genug erfahren, um bestimmen zu können, wo seine Heimat lag. Dann konnte er zu Thrall zurückkehren. Thrall würde wissen, was er von all dem hier zu halten hatte. Thrall würde mit diesen Nachtelfen fertig werden, die sich an gefährlicher Magie versuchten.
Es war alles ganz, ganz einfach …
Brox blinzelte. Er war so sehr in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er erst jetzt die große, weibliche Gestalt bemerkte, die in silbrigen, vom Mond beschienenen Gewändern vor ihm stand.
Sie sah ebenso erschrocken aus, wie sich auch der Orc fühlte. Dann öffnete die Nachtelfin den Mund und schrie.
Brox streckte eine Hand nach ihr aus – er hatte nur vor, ihren Schrei zu ersticken –, doch bevor er irgendetwas tun konnte, erhoben sich weitere Schreie, und aus allen Richtungen erschienen Nachtelfen.
Ein Teil von Brox’ Seele wünschte sich, hier stehen zu bleiben und bis in den Tod zu kämpfen, aber der andere Teil – jener, der Thrall diente – erinnerte ihn daran, dass dies nichts nützen würde. Er hätte bei seiner Mission versagt, hätte das Vertrauen seines Volkes enttäuscht.
Mit einem wütenden Schrei wandte er sich um und floh zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Aber jetzt schien es, als würden hinter jedem Baumstamm, hinter jedem Erdhaufen neue Nachtelfen erscheinen – und jeder Einzelne von ihnen schrie entsetzt auf, als er den bulligen Orc sah.
Hörner schmetterten. Brox fluchte, denn er ahnte, was dieser Klang ankündigte. Und tatsächlich ertönte nur wenige Sekunden später ein katzenhaftes Fauchen, auf das entschlossenes Gebrüll folgte.
Der Orc blickte über seine Schulter und sah, wie sich die Verfolger näherten. Im Unterschied zu dem Soldaten-Paar, vor dem er sich vor kurzem noch versteckt hatte, waren die meisten der neuen Reiter nur in Gewänder und Brustpanzer gekleidet, aber das bedeutete nicht, dass sie keine Bedrohung darstellten. Und nicht nur waren die Elfen alle bewaffnet, ihre Reittiere stellten eine noch entsetzlichere Gefahr dar. Ein Hieb dieser Pranken würde dem Orc das Fleisch aufschlitzen, ein Biss der säbelzahnbewehrten Kiefer ihm den Kopf abreißen. Brox wollte seine Axt nehmen und durch ihre Reihen mähen, auf Reiter und Panther gleichzeitig einhacken und eine Spur des Blutes und der zerfetzten Leichen hinter sich herziehen. Doch trotz seines brennenden Wunsches, jene zu vernichten, die ihn bedrohten, hielten Thralls Lehren und Befehle seine Impulse unter Kontrolle. Brox knurrte und stellte sich den ersten Reitern mit der flachen Seite seiner Axt. Er schleuderte einen Nachtelf von seinem Reittier. Dann, nachdem er den Krallen der großen Katze ausgewichen war, wirbelte er herum, um einen weiteren Reiter am Bein zu packen. Der Orc warf den zweiten Nachtelf über den ersten und presste so beiden die Luft aus den Lungen.
Ein Schwert zischte an seinem Kopf vorbei. Brox zerschmetterte die schlanke Klinge mit seiner mächtigen Axt, und sie löste sich in winzige Splitter auf. Der Nachtelf wich klugerweise zurück, während er immer noch fest den Stummel seiner Waffe umklammerte.
Der Orc stürzte sich in die Lücke, die durch den Rückzug entstanden war, und versuchte, an seinen Angreifern vorbei zu schlüpfen. Einige der Nachtelfen machten durchaus nicht den Eindruck, als wären sie begeistert von dem Gedanken, ihn verfolgen zu müssen, und das hob Brox’ Laune erheblich. Sein eigenes Ehrgefühl sträubte sich gegen die Flucht, aber Thralls Stolz auf den von ihm ausgewählten Krieger hielt Brox davon ab, umzukehren und sich einem törichten letzten Kampf zu stellen. Er würde seinen Häuptling nicht enttäuschen.
Doch gerade als das Entkommen möglich schien, tauchte ein weiterer Nachtelf vor ihm auf. Der neue Mann war in leuchtende Gewänder aus hellem Grün gekleidet, und goldene und rote Sterne sprenkelten seine Brust. Eine Kapuze verbarg den größten Teil des langen, schmalen Gesichts, aber er schien keine Furcht vor dem riesigen, bulligen Orc zu haben, der auf ihn zustürmte.
Brox schwang seine Axt und schrie. Er versuchte, dem Nachtelf Angst einzujagen und ihn zu vertreiben.
Ruhig hob der Nachtelf eine Hand auf Brusthöhe. Der Zeige- und der Mittelfinger wiesen in den mondhellen Himmel.
Als der Orc erkannte, dass hier ein Zauber gewoben wurde, war es bereits zu spät.
Zu seinem Erstaunen fiel eine kreisförmige Scheibe des Mondes vom Himmel und senkte sich auf Brox wie eine weiche, neblige Decke. Als sie ihn einhüllte, wurden seine Arme schwer, seine Beine schwach. Er musste kämpfen, um seine Augenlider offen zu halten.
Die Axt entglitt seinem schlaffen Griff, und Brox sank auf die Knie. Durch den silbrigen Dunst sah er jetzt andere, ähnlich gekleidete Nachtelfen, die ihn umzingelten. Die ebenfalls unter Kutten und Kapuzen verborgenen Gestalten standen ruhig und sahen zu, wie der Zauber seine Arbeit tat.
Eine Welle der Wut brandete in Brox’ Brust auf. Mit einem leisen Knurren gelang es ihm, sich auf die Beine zu kämpfen. Dies war nicht der ruhmreiche Tod, den er sich erhofft hatte! Die Nachtelfen wollten, dass er wie ein hilfloses Kind zu ihren Füßen niedersank! Das würde er nicht tun!
Zitternden Fingern gelang es, wieder die Axt zu packen. Zu seiner Freude bemerkte er, wie ein paar der Kapuzenmänner erschraken. Einen solchen Widerstand hatten sie nicht erwartet.
Aber als er versuchte, seine Waffe zu heben, senkte sich ein weiterer silbriger Schleier über ihn. Alle Kraft, die Brox gerade noch hatte sammeln können, schwand dahin. Als die Axt dieses Mal fiel, wusste er, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, sie neuerlich aufzuheben.