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»Sieht das am Horizont vielleicht aus wie die Turmspitzen von Zin-Azshari?«, schnappte Varo’then. »Ich sehe nur Bäume, nichts als Bäume und noch mehr Bäume, Koltharius … und außerdem hat dieses Grünzeug etwas an sich, das mir überhaupt nicht gefällt! Obwohl wir einfach nur zurückgeritten sind, bewegen wir uns aus irgendwelchen Gründen ganz woanders hin als zur Hauptstadt!«

»Sollen wir kehrtmachen? Unseren Weg zurückverfolgen?«

Rhonin konnte das Gesicht des Hauptmanns nicht sehen, aber er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dessen unzufriedenem Ausdruck. »Nein … nein … noch nicht …«

Doch während Varo’then noch nicht bereit war, den Pfad aufzugeben, machte sich Rhonin zunehmend Sorgen um sein eigenes Wohl. Mit jedem Schritt, der sie tiefer in den dichten, sich um sie schließenden Wald führte, fühlte der Zauberer eine immer stärker werdende Präsenz, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Auf gewisse Weise erinnerte sie ihn an die Art, wie er Krasus empfand, wenn der Drachenmagier Kontakt mit ihm aufnahm.

Doch dies hier war mehr … viel mehr.

Aber was?

»Die Sonne ist fast aufgegangen«, murmelte einer der Soldaten und klang dabei wenig begeistert.

Nach dem, was Rhonin bisher in Erfahrung gebracht hatte, konnten die Nachtelfen bei Tageslicht aktiv sein, mochten es aber ganz und gar nicht. Auf irgendeine Weise schwächte es sie. Sie waren Geschöpfe der Magie – auch wenn sie als Einzelwesen wenige einsetzen mochten –, aber ihre Magie war offenbar an die Nacht gebunden. Wenn Rhonin sich nur von dem Amulett hätte befreien können, sobald die Sonne aufging, wären, das spürte er, die Chancen sofort anders verteilt.

Er versicherte sich, dass niemand hinsah, und schüttelte verstohlen den Kopf. Das Amulett schwang hin und her, aber es wollte nicht abgleiten. Schließlich versuchte Rhonin, seinen Kopf hoch zu werfen, und hoffte, auf diese Art das verdammte Ding lösen zu können. Es bestand die Gefahr, dass sein Tun von den Nachtelfen bemerkt wurde, aber dieses Risiko musste er eingehen.

Im Dämmerschein, der den Morgen ankündigte, starrte ihn aus dem Buschwerk, an dem sie gerade vorbei ritten, ein Gesicht an.

Nein, korrigierte er sich, das Gesicht war Teil des Gebüschs. Blätter und Zweige bildeten die Gesichtszüge und bildeten sogar einen üppigen Bart. Die Augen waren Beeren, und eine Lücke im Grün sah aus wie ein schelmisch grinsender Mund.

Das Antlitz verschwand ebenso schnell wieder, wie es erschienen war, und Rhonin fragte sich, ob er sich das grüne Wesen nur eingebildet hatte. Ein Lichtspiel? Er verneinte dies. Dafür war es zu detailliert gewesen.

Und doch …

Das Kratzen, mit dem ein Schwert aus seiner Scheide gezogen wurde, erregte Rhonins Aufmerksamkeit. Weitere Klingen scharrten. Einer nach dem anderen machten sich die Nachtelfen für einen Kampf bereit, über den sie noch nichts wussten, außer dass er kommen würde. Auch die Großkatzen spürten, dass sich Ärger anbahnte. Sie beschleunigten ihren bereits schnellen Schritt, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie entblößten ihre tückischen Zähne.

Plötzlich zeigte Varo’then nach rechts. »Da lang! Da lang! Schnell!«

In diesem Moment explodierte der Wald vor Leben.

Riesige, dicht mit Blättern bewachsene Äste schwangen herab und raubten den Reitern die Sicht. Büsche sprangen auf und verwandelten sich in kleine, behände Gestalten mit stumm grinsenden Gesichtern aus Grün. Der Waldboden schien nach den Klauen der Panther zu schnappen, und mehr als ein Reiter stürzte aus dem Sattel. Die Nachtelfen schrien verwirrt und versuchten, sich zu organisieren. Doch damit verstärkten sie nur das Chaos.

Ein leises Stöhnen hallte durch den Wald. Rhonin erhaschte nur einen kurzen Blick, doch er war sich sicher, dass einer der riesigen Bäume sich nieder gebeugt und mit seiner dicht belaubten Krone zwei Nachtelfen und deren Reittiere fortgefegt hatte.

Flüche bellten auf, als Varo’then versuchte, das Kommando über seine Truppe zurückzuerlangen. Jene Elfen, die noch auf ihren Panthern saßen, hieben verzweifelt nach den sie umschwärmenden Buschwesen und bemühten sich, ihre Reittiere unter Kontrolle zu halten. Den riesigen Katzen gefiel das, womit sie es hier zu tun hatten, offenbar überhaupt nicht, und oft wichen sie zurück, während ihre Reiter versuchten, sie vorwärts zu treiben.

Varo’then rief etwas, und plötzlich schossen grelle, violette Energietentakel durch das Holz. Ein Strahl traf einen der Buschgeister und verwandelte die zwergenhafte Kreatur sofort in eine lebende Fackel. Doch das Wesen lief trotz der scheinbar tödlichen Bedrohung unbekümmert weiter und zog eine brennende Spur hinter sich her.

Nur wenige Sekunden später begann der Wind, der vorher fast unhörbar gewesen war, zu heulen und zu brüllen, als habe ihn der Angriff der Nachtelfen in wilde Wut versetzt. Er blies mit solcher Vehemenz, dass Erde, abgebrochene Äste und Zweige sowie lose Blätter durch die Luft zu wirbeln begannen und den Elfen die Sicht nahmen. Die Flammen am Leib des Waldgeistes wurden erstickt, doch das Geschöpf schenkte dieser wundersamen Rettung ebenso wenig Beachtung wie zuvor der Gefahr und huschte weiter um die Beine der panischen Katzen herum. Ein riesiger, herumfliegender Ast schmetterte den Nachtelfen, der direkt neben Varo’then ritt, zu Boden.

»Formiert euch neu!«, schrie der narbengesichtige Hauptmann. »Formiert euch neu, und zieht euch zurück! Schneller, verdammt!«

Eine blättrige Hand legte sich auf Rhonins Mund, und er blickte wieder in das erstaunliche Pflanzengesicht. Hinter sich spürte er, wie Hände seine Beine packten und ihnen einen heftigen Schubs versetzten, der den Magier nach vorne dem Waldboden entgegen schickte.

Der Panther bemerkte dies und brüllte. Mehr der kleinen Strauchgestalten wimmelten um die Bestie herum und versetzten sie in Angst. Während die Welt um Rhonin herum durcheinanderwirbelte, fiel sein Blick auf Varo’then, der sich auf seinem Reittier umdrehte, um zu schauen, was hinter ihm vor sich ging. Der Elf mit dem brutalen Gesicht fluchte, als er erkannte, dass man versuchte, ihm die Gefangenen zu stehlen. Doch bevor er eine Hand heben konnte, um die Pflanzenkreaturen aufzuhalten, griffen weitere Zweige nach ihm, wickelten sich um Arme und Gesicht des Hauptmanns und machten ihn blind.

Die Buschwesen fingen Rhonin auf, bevor er Gefahr lief, mit dem Kopf voran auf den Boden zu schlagen. Schweigend packten sie ihn wie einen Rammbock und trugen ihn in den dichten Wald. Rhonin hoffte, dass auch Krasus befreit worden war, aber er konnte nichts erkennen außer der blättrigen Gestalt direkt vor ihm. Trotz ihrer geringen Größe waren diese Wesen offenbar sehr stark.

Dann schnitt ihnen zur Bestürzung des Zauberers ein einzelner Nachtelf auf einem fauchenden Panther den Weg ab. Der Zauberer erkannte den Soldaten, den man Koltharius nannte. Der Elf trug einen verzweifelten Ausdruck auf seinem Gesicht, als wäre Rhonins Entkommen das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Und nach dem Wenigen, was der Magier von dem brutalen Hauptmann mitbekommen hatte, zweifelte er auch nicht daran, dass dies tatsächlich der Fall war.

Ohne ein einziges Wort zu verschwenden, drängte der Nachtelf sein Tier vorwärts. Die Elfen, die Rhonin kannte – vor allem seine eigene geliebte Vereesa –, waren Wesen, die der Natur den allergrößten Respekt entgegenbrachten. Aber Koltharius’ Volk schien sich kein bisschen um die Bewohner des Waldes zu scheren. Die Klinge des Nachtelfen hieb mit ungezügelter Wut auf die Äste und Sträucher ein, die ihm den Weg versperrten. Nichts würde ihn von seiner Beute abhalten.

So zumindest glaubte er wohl. Riesige, schwarze Vögel ließen sich plötzlich aus den Baumkronen auf ihn herab fallen, umflatterten den Nachtelf und hackten unbarmherzig nach seinen silbernen Augen. Koltharius schlug wütend um sich, aber er trennte nicht eine einzige Schwanzfeder von einem seiner geflügelten Angreifer.

Dermaßen abgelenkt war der Soldat von diesem letzten Angriff, dass er nicht bemerkte, wie sich eine weitere Gefahr aus der Erde erhob. Die Bäume, durch die er hindurch musste, erhoben sich um mehr als zwei Fuß, als würden sie ihre Wurzeln strecken.