»Ich möchte mit Euch sprechen.«
Der Wind nahm seine Worte auf und trug sie in den Wald, wo sie mehrmals widerhallten. Die Vögel wurden still. Das Gras hörte auf, sich zu wiegen.
Dann kam der Wind zurück … und mit ihm eine Antwort.
»Und also werden wir sprechen.«
Krasus wartete. In der Ferne hörte er das leise Klappern von Hufen, als sei in diesem wichtigen Augenblick zufälligerweise ein Tier vorbei gekommen. Er runzelte die Stirn, als das Klappern lauter wurde, näher kam. Dann bemerkte er eine schattenhafte Gestalt, die aus dem Wald trat. Ein Reiter mit einem gehörnten Helm auf einem monströsen Pferd?
Doch dann, als die Erscheinung sich den Blumenwächtern näherte und das Licht der Sonne sie ganz erfasste, konnte der Drache in sterblicher Gestalt nur mit offenem Mund starren – wie ein staunendes Menschenkind. Es war ein imposanter Anblick.
»Ich kenne Euch …«, begann Krasus. »Ich kenne Euch …«
Doch der Name, wie so viele andere Erinnerungen, wollte sich ihm nicht offenbaren. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er diesem mythischen Wesen schon einmal begegnet war, und das sagte viel über das Ausmaß der Lücken in seinem Geist aus.
»Ich kenne Euch nicht«, sprach die hoch aufragende Gestalt, deren Rumpf einem Nachtelfen glich, während die untere Hälfte die eines Hirsches war. »Aber ich muss sagen, Ihr habt meine Neugier geweckt …«
Auf vier starken Beinen schritt das majestätische Geschöpf durch die Mauer der Blumen, die ihm den Weg frei machten, wie treue Hunde es für ihren Herrn getan hätten. Einige der Blüten und Gräser streichelten sogar sanft und liebevoll seine Beine.
»Ich bin Cenarius …«, stellte er sich der um einiges schmächtigeren Gestalt vor, die vor ihm saß. »Dies ist mein Reich.«
Cenarius … Cenarius … Fetzen von Erinnerungen flatterten wie Lumpen im Wind durch Krasus’ angegriffenen Geist. Ein paar schlugen Wurzeln, doch die meisten lösten sich einfach in Nichts auf. Cenarius. Von dem die Elfen und anderen Waldbewohner erzählten. Kein Gott, aber … fast. Also ein Halbgott. Auf seine eigene Art so stark wie die Großen Aspekte.
Allein, da war mehr, noch so viel mehr. Doch, so sehr er sich auch anstrengte, der Drachenmagier bekam nichts davon zu fassen.
Seine Bemühungen mussten sich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Cenarius’ strenge Züge wurden etwas freundlicher. »Es geht Euch nicht gut, Reisender. Vielleicht solltet Ihr noch ein wenig länger ausruhen.«
»Nein.« Krasus zwang sich auf die Beine und stand hoch und aufrecht vor dem Halbgott. »Nein … ich möchte jetzt sprechen.«
»Wie Ihr wünscht.« Die Gottheit mit dem riesigen Geweih legte ihren bärtigen Kopf auf die Seite und studierte den Gast. »Ihr seid mehr als Ihr zu sein scheint, Reisender. Ich erkenne Spuren von Nachtelf in Euch, doch da ist noch mehr, viel mehr. Ihr erinnert mich fast an … aber nein, das ist nicht sehr wahrscheinlich.« Die riesige Gestalt zeigte auf Rhonin. »Und er dort ist anders als jedes Geschöpf, das man innerhalb und außerhalb meines Reiches antrifft.«
»Wir kommen von weit her und haben uns, um ehrlich zu sein, verirrt, großer Cenarius. Wir wissen nicht, wo wir sind.«
Zur Überraschung des Magiers rief dieser Satz ein tiefes, donnerndes Lachen in der gewaltigen Brust des Halbgottes hervor. Cenarius’ Heiterkeit brachte noch mehr Blumen zum Erblühen, rief Singvögel in die Zweige der Bäume, die die Lichtung umstanden, und beschwor eine weiche Frühlingsbrise, die Krasus’ Wange streichelte wie eine Geliebte.
»Dann habt Ihr Euch tatsächlich mächtig verlaufen! Wo könntet Ihr wohl sein, mein Freund? Wo sonst könntet Ihr sein als in Kalimdor?«
Kalimdor. Das zumindest machte Sinn. Wo sonst würde man Nachtelfen in solcher Anzahl antreffen? Aber die Erklärung des Waldherren beantwortete nur ein paar wenige von Krasus’ vielen Fragen. »So nahm ich es auch an, hoher Herr, doch –«
»Ich spürte eine beunruhigende Veränderung in der Welt«, unterbrach ihn Cenarius. »Ein Ungleichgewicht, eine Verschiebung, eine … Falschheit. Ich suchte ihren Ursprung auf … und obwohl ich keine Antworten auf meine Fragen fand … so fand ich dort eine Spur, die mich zu Euch und Eurem Begleiter führte.« Er trat ein weiteres Mal an Krasus vorbei, um den schlafenden Rhonin zu mustern. »Zwei Wanderer von Nirgendwo. Zwei verlorene Seelen aus dem Nichts. Zwei Rätsel, von denen mir lieber wäre, es hätte sie niemals gegeben.«
»Und doch habt Ihr uns aus der Gefangenschaft befreit …«
Der Waldherr gab ein Schnauben von sich, das des stärksten Hirsches würdig gewesen wäre. »Die Nachtelfen werden immer arroganter. Sie nehmen sich, was ihnen nicht gehört. Sie gehen dort hin, wo man sie nicht haben will. Sie glauben, dass alles unter ihre Herrschaft fällt. Obwohl sie nicht wirklich in mein Reich eingedrungen waren, entschied ich mich, sie hierher zu locken, um ihnen eine Lektion in Sachen Demut und Manieren zu erteilen.« Er lächelte grimmig. »Und sie machten es mir einfacher, indem sie das, was ich wünschte, direkt hierher brachten.«
Krasus fühlte, wie seine Beine unter ihm nachgeben wollten. Die Anstrengung des Stehens erwies sich als enorm. Doch er war entschlossen, seiner Schwäche nicht nachzugeben. »Auch sie schienen unsere plötzliche Ankunft bemerkt zu haben.«
»Zin-Azshari mangelt es nicht an eigener Magie. Schließlich liegt die Stadt direkt am Quell.«
Der Drachenmagier schwankte, doch dieses Mal nicht vor Schwäche. Cenarius hatte zwei Worte ausgesprochen, die abgründige Furcht in Krasus’ Herz weckten.
»Zin… Zin-Azshari?«
»Ja, Sterblicher! Die Hauptstadt der Nachtelfen, die an den Ufern des Quells der Ewigkeit liegt! Wisst Ihr nicht einmal das?«
Krasus ließ sich zu Boden sinken, und es kümmerte ihn nicht, dass er dem Halbgott damit seinen Zustand verriet. Er hockte im Gras und versuchte, die schwindelerregende Wahrheit zu begreifen.
Zin-Azshari.
Die Quelle der Ewigkeit.
Er kannte diese Namen, so lückenhaft seine Erinnerung auch geworden sein mochte. Manche Legenden waren von solch epischer Größe, dass man Krasus’ Geist vollkommen hätte auslöschen müssen, damit er sie hätte vergessen können.
Zin-Azshari und die Quelle der Ewigkeit.
Der erste Name: das Zentrum eines Imperiums der Zauberei, eines Reiches, das von den Nachtelfen regiert wurde. Wie dumm war er gewesen, dass er dies nicht schon während ihrer Gefangennahme erkannt hatte. Zin-Azshari war über viele Jahrhunderte hinweg das Zentrum der Welt gewesen.
Der zweite Name: die Quelle der Ewigkeit. Ein Ort der puren Magie, das unendlich tiefe Reservoir der Macht, von dem die Magier und Zauberer zu allen Zeiten nur in ehrfürchtigem Flüsterton sprachen. Der Quell war das Zentrum der magischen Kräfte der Nachtelfen gewesen und hatte ihnen erlaubt, Zauber zu weben, die selbst den Drachen Respekt einflößten.
Doch beide lagen in der Vergangenheit … weit in der Vergangenheit. Weder Zin-Azshari, noch der wundersame und mächtige Quell existierten in der Gegenwart. Sie waren vor langer, langer Zeit in einer Katastrophe untergegangen, die … die …
Und hier versagte Krasus’ Gedächtnis wieder. Etwas Schreckliches war geschehen, das beide vernichtet, das die ganze Welt in Stücke gerissen hatte … doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war.
»Ihr habt Euch noch nicht ganz erholt«, sagte Cenarius, und Sorge klang in seiner Stimme. »Ihr solltet Euch weiter ausruhen.«
Noch immer um seine Erinnerung kämpfend, antwortete der Magier: »Es geht … mir bestimmt wieder besser, wenn mein Freund erwacht. Wir … wir werden sobald wie möglich weiterziehen und Euch nicht länger zur Last fallen.«
Die Gottheit runzelte die Stirn. »Kleiner Mann, Ihr missversteht. Ihr seid mir sowohl ein Rätsel als auch ein Gast … und so lange Ihr das Erstere seid, werdet Ihr auch das Letztere bleiben.« Cenarius wandte sich um und schritt auf die wachsamen Blumen zu. »Ich glaube, Ihr benötigt Speise. Ihr werdet sie bald erhalten. Bis dahin ruht Euch aus.«