Cenarius wartete nicht ab, dass Krasus protestierte, aber der Drachenmagier hatte dies auch gar nicht vor. Wenn ein Wesen wie der Waldgott darauf bestand, dass sie blieben, wusste Krasus, dass es unmöglich war, ihn umzustimmen. Er und Rhonin waren Gäste, solange Cenarius dies wünschte … und bei einem Halbgott konnte das bedeuten, für den Rest ihres Lebens.
Doch das bereitete Krasus weniger Sorgen als der Gedanke, dass dieses Leben möglicherweise sehr kurz währen würde.
Zin-Azshari und der Quell waren durch eine monströse Katastrophe zerstört worden … und je mehr der Drachenmagier darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass sich diese Katastrophe mit raschen Schritten und unaufhaltsam näherte.
»Ich warne dich, ich liebe Überraschungen, aber von dieser hier erwarte ich, dass sie mich verzückt.«
Xavius lächelte nur, als er die Königin an der Hand in die Kammer führte, in der die Hochgeborenen arbeiteten. Er war mit aller Liebenswürdigkeit, die er aufbringen konnte, zu ihr gekommen und hatte sie höflich gebeten, sich ihm anzuschließen, um zu sehen, was seine Zauberer erreicht hatten. Der Berater wusste, dass Azshara als Wiedergutmachung für diese Störung eine ganz erstaunliche Überraschung verlangte, und sie würde nicht enttäuscht werden … selbst wenn es etwas anderes sein würde, als die Herrscherin der Nachtelfen erwartete.
Die Wachleute knieten nieder, als sie eintraten. Obwohl sie die gleichen steinernen Gesichtszüge wie sonst darboten, waren auch sie – wie Xavius – berührt worden. Jeder in der Kammer verstand, worum es ging, nur Azshara nicht.
Doch auch sie würde gleich ihre Offenbarung erleben.
Die Königin betrachtete den wirbelnden Mahlstrom innerhalb des Musters, und ihre Stimme troff vor Enttäuschung. »Es sieht genauso aus wie immer.«
»Ihr müsst es genauer betrachten, Licht der tausend Monde. Dann werdet Ihr verstehen, was wir erreicht haben …«
Azshara fürchte die Stirn. Sie hatte auf seine Bitte hin ihre Begleiterinnen zurückgelassen, und vielleicht bereute sie dies nun. Trotzdem war Azshara die Königin, und es geziemte sich für sie zu zeigen, dass sie – auch wenn sie allein war – jede Situation durch ihre bloße Gegenwart beherrschte.
Mit eleganten Schritten trat Azshara bis fast an den Rand des Musters heran. Sie begutachtete zuerst die Arbeit des Hochgeborenen, der gerade an dem Zauber wob, dann ließ sie sich dazu herab, einen Blick in das Inferno selbst zu werfen.
»Es scheint mir immer noch unverändert, liebster Xavius. Ich hatte mehr von dir erwart …«
Ein Keuchen entrang sich Azsharas Kehle, und obwohl ihr Gesicht von Xavius abgewandt war, wusste er, das sich jähes Begreifen auf ihren Zügen abzeichnete.
Und die Stimme, die zuerst zu ihm gesprochen hatte, die Stimme seines Gottes, erklärte so, dass alle es hören konnten:
Ich komme …
8
Das Ritual des Hohen Mondes war beendet. Nun hatte Tyrande Sinn und Muse für sich selbst. Elune erwartete Hingabe von ihren Priesterinnen, doch sie verlangte nicht, dass sie ihr all ihre Zeit opferten. Mutter Mond war eine freundliche, liebevolle Herrin, und das war es gewesen, was die junge Nachtelfin in den Tempel geführt hatte. Der Eintritt in die Schwesternschaft hatte Tyrande einen gewissen Frieden in ihren Sorgen, in ihren inneren Konflikten geschenkt.
Doch ein Konflikt wollte ihr Herz nicht verlassen. Die Zeit hatte das Verhältnis zwischen ihr, Malfurion und Illidan verändert. Sie waren nicht länger jugendliche Freunde. Die Einfachheit der Kindheit war der Komplexität erwachsener Beziehungen gewichen.
Ihre eigenen Gefühle für die beiden jungen Männer hatten sich geändert, und sie wusste, dass auch die Brüder inzwischen ihr gegenüber anders empfanden. Der Wettstreit zwischen den Zwillingen war stets freundlich und verspielt gewesen, aber in letzter Zeit hatte er sich auf eine Weise gesteigert, die Tyrande missfiel. Nun schien es, als kämpften sie gegeneinander, als wetteiferten sie um einen Preis.
Tyrande begriff – selbst wenn die Brüder dies nicht taten –, dass dieser Preis sie war.
Obwohl die Novizin sich geschmeichelt fühlte, wollte sie keinen von beiden verletzen. Und doch würde Tyrande diejenige sein, die zumindest einen der Brüder schwer enttäuschte, denn sie wusste in ihrem Herzen, wenn die Zeit kam, sich ihren Gefährten fürs Leben zu wählen, würde es entweder Illidan oder Malfurion sein.
In das silberne Kapuzengewand der Novizin gekleidet, schritt Tyrande schweigend durch die hohen Marmorhallen des Tempels. Über ihr stellte ein magisches Fresko den Himmel dar. Ein flüchtiger Betrachter mochte sogar meinen, dieser Saal besäße tatsächlich kein Dach, so perfekt war die Illusion. Doch nur die Große Kammer, in der die Rituale stattfanden, stand dem Himmel wirklich offen. Dort besuchte Elune ihre Getreuen in der Gestalt der Mondstrahlen und berührte sie sanft wie eine Mutter ihre geliebten Kinder.
Vorbei an den hoch aufragenden Statuen, die die irdischen Inkarnationen der Göttin zeigten – die Hohepriesterinnen der Vergangenheit –, bewegte sich Tyrande schließlich über den weiten Marmorboden der Vorhalle. Hier erzählte ein verschlungenes Mosaik von der Schöpfung der Welt durch Elune und die anderen Götter, wobei Mutter Mond in den Bildern natürlich eine dominierende Rolle einnahm. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Götter vage Gestalten mit schattenhaften Gesichtern, keine bloßen Geschöpfe des Fleisches, die man in ihren wahren Erscheinungsformen darstellen konnte. Nur die Halbgötter, ihre Kinder und Helfer hatten erkennbare Gesichter. Einer von ihnen war Cenarius, von dem viele glaubten, er sei das Kind von Mond und Sonne. Cenarius bestätigte dies natürlich nicht, noch leugnete er es, und Tyrande hatte für sich beschlossen, dass die Geschichte stimmte.
Draußen beruhigte die kühle Nachtluft ein wenig Tyrandes Sorge um sich selbst und um die beiden Brüder. Sie stieg die weißen Alabaster-Stufen des Tempels hinab und tauchte in die Menge der Nachtelfen auf den Straßen ein. Viele neigten ihr Haupt ehrerbietig vor der Novizin, während andere ihr höflich den Weg frei machten. Es brachte gewisse Vorteile mit sich, eine Dienerin der Elune zu sein, doch im Augenblick wünschte sich die junge Frau, die Welt hätte sie einfach nur als sie selbst betrachtet.
Suramar war nicht so glanzvoll wie Zin-Azshari, doch die Stadt hatte ihre ganz eigene Atmosphäre. Helle Farben herrschten vor, als sie den Marktplatz betrat, wo Kaufleute der Bevölkerung ihre Waren feil boten. Würdenträger in prächtigen, diamantbesetzten Gewändern, die in sonnigem Rot und feurigem Orange strahlten, gingen mit erhobener Nase, die Augen nur auf den Weg vor sich gerichtet, neben Elfen der niedrigeren Kasten, die einfachere Kleidung in Grün, Gelb, Blau oder einer Mischung dieser Farben trugen. Die Leute kamen auf den Markt, um sich der Welt von ihrer besten Seite zu präsentieren.
Selbst die Gebäude beteiligten sich am Imponiergehabe ihrer Bewohner und leuchteten vor Tyrandes Augen in allen Farben des Regenbogens. Die Fassaden mancher Geschäfte waren in nicht weniger als sieben Farben bemalt und zeigten dramatische Szenen, die sich über sämtliche Mauern zogen. Fackellicht beleuchtete die meisten Hausmauern, denn man betrachtete die tanzenden Flammen als einen lebhaften Akzent.
Die wenigen Nicht-Nachtelfen, die die Novizin in ihrem kurzen Leben getroffen hatte, schienen ihr Volk geschmacklos zu finden. Manche gingen sogar so weit zu behaupten, Tyrandes Leute müssten farbenblind sein. Obwohl ihr eigener Geschmack dazu neigte, etwas konservativer zu sein – jedoch nicht so konservativ wie der von Malfurion –, fand Tyrande, dass die Nachtelfen einfach eine größere Liebe für die Vielfalt der Muster und Formen hatten, die in der Welt existierten.