Nachdem er alles sicher vor sich abgesetzt hatte, begann der grünhäutige Gefangene zu essen. Er schlang den Inhalt der Schüssel mit einem gewaltigen Schluck in sich hinein, und etwas von der bräunlichen Flüssigkeit spritzte über sein Kinn. Das Fleischstück folgte, und mächtige, gezackte, gelbe Zähne rissen ohne zu zögern an dem rohen, blutigen Fleisch. Tyrande musste schlucken, doch sie zeigte ihr Unbehagen angesichts der monströsen Manieren des Gefangenen in keiner anderen Weise. Unter den gleichen Bedingungen hätte sie selbst sich vielleicht kaum besser verhalten als er.
Ein paar Gaffer betrachteten diese Aktivität als wäre sie ein belustigendes Schauspiel, doch Tyrande ignorierte sie. Sie wartete geduldig, während der Gefangene fortfuhr, sein Essen zu verschlingen. Er nagte selbst den letzten Fetzen Fleisch von dem Knochen und zerbrach diesen dann knackend in zwei Stücke, denen er mit solchem Genuss das Mark aussaugte, dass die letzten Schaulustigen – deren elfisches Feingefühl durch solch einen tierischen Anblick empfindlich verstört wurde – endlich verschwanden.
Als die Letzten gegangen waren, ließ der Gefangene schließlich die Knochen-Bruchstücke fallen und griff mit einem grollenden Kichern nach dem Krug. Nicht einmal hatte er seine Augen für mehr als eine Sekunde von der Novizin abgewandt.
Als das Wasser verschwunden war, wischte er sich den breiten Mund mit dem Arm ab und grunzte: »Gut.«
Ein echtes Wort von seinen Lippen zu hören, überraschte Tyrande, obwohl sie bereits früher angenommen hatte, dass er, wenn er sie verstehen konnte, auch sprechen konnte. Sie musste wieder Lächeln und lehnte sich so nahe an die Gitterstäbe, dass sie die Besorgnis der Wächter weckte.
»Schwester!«, rief einer der Soldaten. »Ihr solltet nicht so nah herangehen! Er wird Euch –«
»Er wird nichts tun«, versicherte sie ihnen schnell. Mit einem lächelnden Blick auf den Gefangenen fügte sie hinzu: »Oder doch?«
Er schüttelte den Kopf und zog seine Hände zur Bestätigung nah an seine Brust. Die Soldaten traten ein wenig zurück, blieben aber wachsam.
Tyrande ignorierte sie ein weiteres Mal und fragte: »Willst du noch etwas? Mehr Essen?«
»Nein.«
Sie hielt einen Augenblick inne, dann sagte sie: »Mein Name ist Tyrande. Ich bin eine Priesterin der Elune.«
Die Gestalt im Käfig schien nicht daran interessiert, das Gespräch fortzusetzen. Aber als der Gefangene erkannte, dass sie entschlossen war, auf seine Erwiderung zu warten, antwortete er schließlich: »Brox … Broxigar. Treuer Diener von Kriegshäuptling Thrall, dem Herrscher der Orcs.«
Tyrande versuchte zu verstehen, was er gerade gesagt hatte. Dass er ein Krieger war, überraschte sie angesichts seines Aussehens wenig. Er diente einem Anführer, diesem Thrall, dessen Name in vielerlei Hinsicht seltsamer war als sein eigener, denn er bedeutete »Sklave«.
Von welcher Art mochte ein Herrscher sein, der einen solchen Titel trug?
Und dieser Thrall war Herr der Orcs, und ein Orc musste das sein, was Brox war. Der Tempel hatte Tyrande gut und gründlich unterrichtet, doch niemals hatte sie dort oder irgendwo sonst von einem Volk gehört, das man Orcs nannte. Und wenn sie alle so aussahen wie Brox, hätten sich die Nachtelfen sicher gut an sie erinnert.
Sie entschied sich, weiter nachzuforschen. »Wo kommst du her, Brox? Wie bist du hierher gekommen?«
Sofort erkannte Tyrande, dass sie einen Fehler begangen hatte. Der Augen des Orcs verengten sich, und er klappte seinen Mund fest zu. Wie dumm von ihr, nicht daran gedacht zu haben, dass die Mondgarde ihn bereits verhört haben musste … und gewiss ohne die Freundlichkeit, die sie ihm erwiesen hatte. Jetzt musste er glauben, dass man sie gesandt hatte, um ihm auf liebenswürdige Weise das zu entlocken, was die Zauberer ihm mit Gewalt und Magie nicht hatten entreißen können.
Brox, der offensichtlich ein Ende dieser Begegnung wünschte, nahm die Schüssel auf und hielt sie Tyrande hin. Sein Gesichtsausdruck war finster und misstrauisch.
Ohne Warnung fuhr über den Rücken der Novizin hinweg ein Energieblitz in den Käfig und traf die Hand des Orcs.
Mit einem wilden Knurren ergriff Brox seine verbrannten Finger und hielt sie schmerzerfüllt fest. Er bedachte Tyrande mit einem solch mörderischen Blick, dass sie entsetzt zurückfuhr und aufstand. Die Wachen sammelten sich sofort um den Käfig und trieben Brox mit ihren Speeren gegen die hinteren Gitterstäbe.
Starke Hände ergriffen die Novizin an den Schultern, und eine vertraute Stimme fragte besorgt: »Geht es dir gut, Tyrande? Diese scheußliche Biest hat dich nicht verletzt, oder?«
»Er hatte nicht vor, mir irgendetwas anzutun!«, stieß sie hervor und wandte ihr Gesicht dem Mann zu, der den Energieblitz geschleudert hatte. »Illidan! Wie konntest du?«
Der gut aussehende Nachtelf runzelte die Stirn, und seine faszinierenden, goldenen Augen verloren etwas von ihrem Glanz. »Ich hatte nur Angst um dich! Diese Bestie ist fähig, dich zu –«
Tyrande schnitt ihm das Wort ab. »In dem Käfig ist er zu wenig fähig … Und er ist keine Bestie!«
»Ach nein?« Illidan beugte sich vor, um Brox zu inspizieren. Der Orc fletschte die Zähne. Malfurions Bruder schnaubte verächtlich. »Das Ding sieht mir nicht gerade nach einem zivilisierten Wesen aus …«
»Er wollte nur die Schüssel zurückgeben. Und wenn es irgendwelchen Ärger gegeben hätte, hätten die Soldaten eingegriffen.«
Illidan runzelte erneut die Stirn. »Es tut mir Leid, Tyrande. Vielleicht habe ich überreagiert. Aber du musst zugeben, dass nur wenige andere, selbst unter den Priesterinnen, das schreckliche Risiko eingegangen wären, so einem Tier zu helfen. Du weißt es vielleicht nicht, aber es heißt, das Ding hätte beinahe ein Mitglied der Mondgarde erwürgt, als es wieder zu sich kam.«
Die Novizin blickte in das steinerne Gesicht des Wächters, und dieser nickte zögerlich. Er hatte vergessen, ihr von diesem Zwischenfall zu berichten. Aber Tyrande bezweifelte, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Brox war misshandelt worden, und sie hatte gespürt, dass sie ihm zu Hilfe kommen musste.
»Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Illidan, aber ich sage es noch einmaclass="underline" Ich befand mich nicht in Gefahr!« Ihre Augen verengten sich, als ihr Blick auf die Verletzung des Orcs fiel. Seine Finger waren leicht geschwärzt, und der Schmerz in Brox’ Augen war offensichtlich. Trotzdem schrie der Orc nicht und bat auch nicht darum, behandelt zu werden.
Tyrande ließ Illidan stehen und kniete noch einmal bei dem Käfig nieder. Ohne zu zögern, griff sie durch die Gitterstäbe.
Illidan rief entsetzt: »Tyrande!«
»Bleib zurück! Bleibt alle zurück!« Ihre Augen trafen den misstrauischen Blick des Orcs, und sie flüsterte: »Ich weiß, dass du mich nicht verletzen wolltest. Ich kann das hier für dich heilen. Bitte. Lass mich.«
Brox knurrte, doch es klang nicht, als sei er wütend, sondern als würde er einfach seine Möglichkeiten abwägen. Illidan stand weiterhin neben Tyrande, und ihr wurde klar, dass er den Orc ein weiteres Mal mit einem Blitz angreifen würde, wenn er auch nur das geringste Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte.
»Illidan … Ich muss dich bitten, dich für einen Augenblick abzuwenden.«
»Was? Tyrande –«
»Tu es für mich, Illidan.«
Sie spürte seine unterdrückte Wut. Trotzdem gehorchte er ihrer Bitte, drehte sich um und wandte sein Gesicht einem der Gebäude zu, die den Marktplatz säumten.
Tyrande betrachtete Brox. Sein Blick hatte sich Illidan zugewandt, und für einen kurzen Moment glaubte sie, in seinen Augen Genugtuung zu lesen. Dann kehrte sich der Orc wieder ihr zu und streckte ihr vorsichtig seine verstümmelte Hand entgegen.
Sie nahm sie in ihre eigene Hand und starrte schockiert auf die Wunde. An zwei Fingern war das Fleisch teilweise weg gebrannt, und ein dritter war rot und brandig.
»Was hast du ihm angetan?«, fragte sie Illidan entsetzt.