Bevor er sich zurückhalten konnte, strömten fast lautlos Worte aus seinem Mund, und er ballte die rechte Hand zur Faust.
Ein scharfer Schrei erklang aus der Richtung des Käfigs. Schnell blickte er dorthin.
Die Gitterstäbe loderten hell auf, doch es war nicht das silberne Licht des Mondes, sondern eine wütende, rote Aura, die den Käfig umhüllte, als wollte sie ihn verschlingen … ihn und seinen Insassen.
Die widerwärtige Kreatur im Innern des Zwingers brüllte vor rasendem Schmerz, und die Soldaten rannten verwirrt wie aufgescheuchte Hühner um den Käfig herum.
Schnell murmelte Illidan den Gegenzauber.
Die Aura verschwand. Der Gefangene stellte sein Geschrei ein.
Niemand bemerkte den jungen Nachtelf, als er sich schnell vom Schauplatz entfernte. Er hatte sich von seiner Wut überwältigen lassen und nach dem offensichtlichsten Ziel geschlagen. Illidan war froh, dass die Wachen nicht die Wahrheit erkannt hatten und dass Tyrande bereits fort und nicht Zeugin seines Wutausbruchs geworden war.
Er war auch froh, dass die Männer der Mondgarde ihre magischen Barrieren um den Käfig errichtet hatten … denn wären die Schutzzauber nicht gewesen, hätte er die Kreatur im Käfig umgebracht.
9
Sie starben überall.
Wohin Brox auch blickte, sah er seine Kameraden sterben. Garno, mit dem er aufgewachsen war, der praktisch sein Bruder gewesen war, fiel als Nächster. Sein Leib wurde in Stücke gehackt von der kreischenden Klinge eines der feurigen Giganten mit ihren höllischen, gehörnten Fratzen, aus denen spitze Zähne drohten. Der Dämon selbst starb nur wenige Sekunden später durch Brox’ Hand. Der Orc sprang auf die Schultern des Teufelsmonsters, und mit einem Schrei, der selbst diese fürchterliche Kreatur zögern ließ, wurde Garnos Mörder trotz seiner lodernden Rüstung in zwei Hälften gespalten.
Doch die Legion griff weiter an und dezimierte die Orcs. Nur eine Handvoll Verteidiger war noch übrig, und mit jeder Minute fand ein weiterer Orc den Tod.
Thrall hatte befohlen, den Pass zu halten, damit die Legion hier nicht durchbrach. Hilfe war bereits unterwegs, aber die Horde benötigte Zeit. Sie brauchte Brox und seine Kameraden.
Sie wurden weniger und weniger. Duun war nicht mehr. Sein Schädel sprang bereits seit mehreren Sekunden über den blutgetränkten Boden, als ihm endlich auch der riesige Leib nachfolgte. Fezhar lag tot da, doch die Überreste seines Körpers waren nicht wiederzuerkennen. Er war von einer Woge unnatürlicher, grüner Flammen erfasst worden, die einer der Dämonen gegen ihn gespien hatte, ein Feuer, das den Leib des Orcs weniger verbrannt, als aufgelöst hatte.
Wieder und wieder hatte Brox’ starke Axt seine schrecklichen Feinde gefällt, und dem Anschein nach niemals die gleiche Art von Kreatur zweimal. Doch wann immer er den Schweiß von seiner Stirn wischte und nach vorne blickte, sah er nur noch mehr von ihnen.
Und mehr und mehr …
Jetzt stand nur noch er gegen sie. Stand gegen eine kreischende, hungrige See von Monstern, die alle nichts anderes im Sinn hatten als die absolute Vernichtung jeglichen Lebens.
Und als sie sich auf den einzigen Überlebenden stürzten – erwachte Brox.
Der Orc zitterte in seinem Käfig, und das der Kälte wegen. Nach mehr als tausend Alpträumen hätte er gedacht, er wäre immun gegen die Schrecken, die sein Unterbewusstsein immer von Neuem von den Toten erweckte. Doch jedes Mal, wenn die Bilder über ihn herfielen, kamen sie mit neuer Wucht, neuem Schmerz.
Neuer Schuld.
Brox hätte damals sterben sollen. Er hätte mit seinen Kameraden untergehen sollen. Sie hatten das Höchste aller Opfer für die Horde gebracht, doch er hatte überlebt. Es war nicht richtig.
Ich bin ein Feigling … dachte er wieder. Wenn ich härter gekämpft hätte, wäre ich jetzt bei ihnen.
Aber als er Thrall dies erzählt hatte, hatte der Kriegshäuptling nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Niemand hat härter gekämpft als du, alter Freund. Deine Narben beweisen es. Die Kundschafter sahen dich kämpfen, als sie sich näherten. Du hast deinen Kameraden, deinem Volk, einen ebenso großen Dienst erwiesen wie jene, die starben …«
Brox hatte Thralls Dankbarkeit akzeptiert, doch niemals das, was der Anführer der Horde gesagt hatte.
Und jetzt war er hier, eingepfercht wie ein Schwein, das darauf wartete, von diesen arroganten Kreaturen geschlachtet zu werden. Sie starrten ihn an, als sei er eine Missgeburt mit zwei Köpfen und staunten über seine Hässlichkeit. Nur die junge Frau, die Schamanin, hatte ihm Respekt und Fürsorge entgegengebracht.
In ihr spürte er die Macht, von der sein eigenes Volk sprach, den alten Weg der schamanischen Magie. Mit einem einfachen Gebet zum Mond hatte sie die feurige Wunde geheilt, die ihr Freund ihm geschlagen hatte. Sie besaß wahrlich eine große Gabe, und Brox fühlte sich geehrt, dass sie ihm ihren Segen gab.
Nicht, dass dies auf lange Sicht einen großen Unterschied gemacht hätte. Der Orc zweifelte nicht daran, dass diese Nachtelfen bald eine Entscheidung darüber treffen würden, auf welche Weise sie ihn hinrichten wollten. Aber was sie von ihm erfahren hatten, würde ihnen nichts nützen. Er hatte sich geweigert, ihnen ganz bestimmte Informationen über sein Volk zu geben. Sie hatten nicht aus ihm herauspressen können, wo es lebte. Gewiss, er wusste ja selbst nicht genau, in welcher Richtung seine Heimat lag, doch es war besser, wenn er davon ausging, dass alles, was er über die Orcs sagte, den Nachtelfen helfen konnte, sein Volk anzugreifen. Im Unterschied zu jenen Nachtelfen, die die Verbündeten der Orcs gewesen waren, empfanden diese hier nur Verachtung für Außenseiter … und das machte sie zu einer Bedrohung für die Horde.
Brox rollte sich auf den Rücken – so gut es ihm seine Ketten erlaubten. Noch eine Nacht, und er war wahrscheinlich tot, doch nicht auf die Art, die er selbst gewählt hätte. Für ihn würde es keine ruhmreiche Schlacht geben, kein großes Epos, das noch den zukünftigen Generationen von seinem ehrenvollen Tod erzählte …
»Große Geister«, murmelte er. »Hört diesen Unwürdigen an. Gewährt mir einen letzten Kampf, eine letzte Sache, für die zu streiten sich lohnt. Lasst mich in Würde sterben …«
Brox starrte in den Himmel und betete schweigend weiter.
Doch im Unterschied zu der jungen Priesterin zweifelte er daran, dass die Mächte, die über die Welt wachten, einer niederen Kreatur wie ihm zuhören würden.
Sein Schicksal lag in den Händen der Nachtelfen.
Was Malfurion nach Suramar führte, konnte er selbst nicht genau sagen. Drei Nächte lang hatte er allein in seinem Haus gesessen und über all die Dinge gebrütet, die Cenarius ihm erzählt hatte, über all das, was er selbst im Grünen Traum erfahren hatte. Drei Nächte ohne Antworten auf seine wachsenden Sorgen. Er zweifelte nicht daran, dass das Zauberwerk in Zin-Azshari weiterging und dass die Lage nur immer verzweifelter werden würde, so lange niemand eingriff.
Doch niemand sonst schien überhaupt ein Problem zu bemerken.
Vielleicht, entschied Malfurion schließlich, war er einfach nur deshalb nach Suramar gekommen, um irgendeine andere Stimme zu finden, irgendeinen anderen Geist, mit dem er über sein inneres Dilemma sprechen konnte. Aus diesem Grund hatte er sich entschlossen, Tyrande aufzusuchen und nicht seinen Zwillingsbruder. Sie dachte sehr viel sorgfältiger über die Dinge nach, die sie tat, während Illidan dazu neigte, sich in eine Aktion zu stürzen, egal ob er einen Plan hatte oder nicht.
Ja, es würde gut sein, mit Tyrande zu sprechen … und sie einfach nur zu sehen.
Doch als er in die Richtung des Tempels der Elune ging, kam plötzlich ein großes Kontingent Reiter aus der anderen Richtung auf ihn zu. Malfurion trat zur Seite, und mehrere Soldaten in graugrünen Rüstungen ritten auf ihren seidigen, gut gepflegten Panthern an ihm vorbei. Einer der Männer, der sehr weit vorne ritt, hielt ein großes Banner in die Höhe, auf dessen prächtigem rotem Hintergrund der schwarze Schattenriss eines Raben prangte.