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Der Halbgott bemerkte seine Neugierde. »Jedes Tier, jedes Wesen dient vielen Zwecken. Sie sind alle Teil der Zyklen des Waldes, und dazu gehört die Notwendigkeit zu essen. Ihr seid wie der Bär oder der Wolf, die beide frei in meinem Reich jagen. Nichts wird hier vergeudet. Alles kehrt zurück, um das neue Wachstum zu nähren. Das Reh, von dem Ihr Euch nun nährt, wird wiedergeboren werden und wieder sein Leben leben. Und es wird sein Opfer vergessen haben.«

Rhonin runzelte die Stirn. Er konnte Cenarius’ Erklärung nicht ganz folgen, doch er hatte das Gefühl, dass es besser war, ihn nicht zu bitten, sie etwas klarer zu formulieren. Der Halbgott betrachtete ihn und Krasus als Raubtiere und fütterte sie dementsprechend. Das war alles.

Als sie zu Ende gegessen hatten, fühlte sich der Zauberer viel besser. Er wollte gerade die Angelegenheit ihrer Gefangenschaft ansprechen, aber Cenarius ergriff zuerst das Wort.

»Ihr solltet nicht hier sein, Meister Rhonin.«

Dann blickte der Herr des Waldes den Drachenmagier an.

»Und auch Ihr nicht, Meister Krasus.«

Keiner der beiden Männer konnte darauf etwas entgegnen.

Cenarius schritt vor ihnen auf und ab. »Ich habe mit den anderen gesprochen, ausführlich über meine beiden Gäste diskutiert. Wir haben versucht zusammenzutragen, was wir wissen … Wir wissen nichts … Aber wir sind uns alle darin einig, dass diese seltsamen Wesen nicht hier sein dürften. Sie gehören nicht an diesen Ort, sie sind hier falsch, doch auf eine Art, die wir erst noch bestimmen müssen.«

»Vielleicht kann ich es erklären«, warf Krasus ein. Rhonin fand, dass er immer noch schwach aussah, doch nicht mehr so sehr wie unmittelbar nach ihrer Ankunft in dieser Zeit.

»Vielleicht kannst du das«, pflichtete ihm der junge Zauberer bei.

Der Drachenmagier blickte auf seinen Gefährten. Rhonin sah keinen Grund, die Wahrheit zurückzuhalten. Cenarius schien das erste Geschöpf zu sein, auf das sie hier gestoßen waren, das ihnen vielleicht helfen konnte.

Doch die Geschichte, die Krasus ihrem Gastgeber erzählte, war nicht diejenige, die der Mensch erwartet hatte …

»Wir kommen aus einem Land jenseits des Meeres … weit jenseits, doch das ist unwichtig. Von Bedeutung ist allein der Grund, aus dem wir hierher geraten sind …«

In Krasus’ überarbeiteter Fassung war es er selbst, nicht Nozdormu, der die Anomalie entdeckt hatte. Der Drachenmagier beschrieb sie auch nicht als ein Loch in der Zeit, aber durchaus als ein Phänomen, welches das Gewebe der Realität störte und möglicherweise eine immer größer werdende Katastrophe erschuf. Er hatte den einzigen anderen Zauberer zu sich gerufen, dem er vertraute – Rhonin –, und zusammen waren sie aufgebrochen.

»Wir reisten zu einer Kette öder Berge im bitteren Norden unseres Landes, wo ich das Phänomen am stärksten spürte. Wir fanden die Anomalie … und die monströsen Dinge, die sie ausspie. Die Unnatürlichkeit dieses Risses in der Wirklichkeit empfanden wir beide sehr stark, doch als wir ihn näher untersuchen wollten … bewegte er sich und verschlang uns. Wir wurden unserer Heimat entrissen …«

»Und in das Land der Nachtelfen geschleudert«, vollendete der Halbgott den Satz.

»Ja«, nickte Krasus. Rhonin fügte nichts hinzu und hoffte, dass sein Gesichtsausdruck seinen Gefährten nicht verriet. Zusätzlich zu Krasus’ Auslassung ihrer wahren Herkunft, hatte sein früherer Mentor auch ein anderes Detail unterschlagen, das Cenarius möglicherweise interessiert hätte.

Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er ein Drache war.

Die Waldgottheit trat einen Schritt zurück und betrachtete die beiden Gestalten. Rhonin konnte Cenarius’ Mimik nicht durchschauen. Glaubte er Krasus’ Überarbeitung der Wahrheit, oder hatte er gemerkt, dass sein »Gast« ihm gegenüber nicht ganz ehrlich war?

»Ich muss das sofort mit den anderen diskutieren«, meinte Cenarius schließlich, und sein Blick schweifte in den Wald, als sei er auf einen sehr fernen Punkt gerichtet. Schließlich wandte er seine Augen wieder Rhonin und Krasus zu und erklärte: »Ich werde wiederkommen.«

Bevor sie irgendetwas darauf erwidern konnten, verschmolz der Herr des Waldes bereits mit dem Mondlicht und ließ sie ein weiteres Mal allein.

»Das war zwecklos«, knurrte Rhonin.

»Vielleicht. Aber ich wüsste gern, wer diese anderen sind.«

»Noch mehr Halbgötter wie er selbst, nehme ich an. Warum hast du ihm nichts erzählt von deiner …«

Der Drachenmagier bedachte ihn mit einem solch scharfen Blick, dass Rhonins Stimme stockte. Krasus sprach anschließend sehr leise, als er antwortete. »Ich bin ein Drache ohne Kraft, mein junger Freund, und du hast keine Vorstellung, was das für ein Gefühl ist. Egal, wer Cenarius ist, ich will, dass dies ein Geheimnis bleibt, bis ich selbst weiß, warum sich meine Kräfte nicht erholen.«

»Und der … der Rest der Geschichte …?«

Krasus löste seinen Blick von ihm. »Rhonin … ich habe dir gegenüber erwähnt, dass wir uns in der Vergangenheit befinden könnten.«

»Davon hast du gesprochen.«

»Meine Erinnerungen sind … nun, sie sind ebenso angeschlagen wie meine körperlichen Fähigkeiten. Ich weiß nicht, warum. Doch einer Sache habe ich mich entsinnen können. Etwas, das ich während deines Schlafes erfahren habe, hat mich auf die Spur gebracht. Ich weiß jetzt, wann wir hier sind.«

Ein Lächeln erhellte Rhonins Gesicht, und er sprudelte heraus: »Aber das ist doch gut! Dann haben wir zumindest eine Art von Anker. Jetzt können wir bestimmen, wen wir am Besten …«

»Lass mich bitte ausreden.« Krasus’ finsteres Gesicht schien Schlimmes zu verheißen. »Es gibt einen sehr guten Grund dafür, warum ich unsere Geschichte so stark abänderte wie nur möglich. Ich hatte das Gefühl, dass Cenarius einen Teil von dem wusste, was vor sich ging, vor allem, so weit es die Anomalie betrifft. Was ich ihm nicht verraten konnte, waren meine Mutmaßungen darüber, was auf die Anomalie folgen könnte.«

Je leiser und dunkler die Stimme des Magiers wurde, desto stärker und kälter griff die Furcht nach Rhonins Herz. »Was?«

»Ich fürchte, wir befinden uns kurz vor dem ersten Erscheinen der Brennenden Legion

Er hätte Rhonin keine schrecklichere Nachricht eröffnen können. Seit der junge Zauberer gegen die dämonische Horde und ihre Verbündeten gekämpft und dabei mehr als einmal fast den Tod gefunden hatte, litt er noch immer unter furchtbaren Alpträumen. Nur Vereesa kannte das Ausmaß dieser Angstzustände, und sie musste gegen viele eigene Schreckgespenster kämpfen.

Nur ihre wachsende Liebe zueinander und die bevorstehende Ankunft ihrer Kinder hatten ihre Herzen und Seelen heilen können, doch dies hatte viele Monate gebraucht.

Und jetzt war Rhonin wieder in seine finstersten Alpträume geschleudert worden.

Er sprang auf und erklärte: »Dann müssen wir es Cenarius sagen! Wir müssen es allen sagen, die wir finden können! Sie werden …«

»Sie dürfen es nicht wissen. Ich fürchte, es ist bereits zu spät, um die Dinge so zu erhalten, wie sie einst waren.« Krasus erhob sich ebenfalls und blickte an seiner langen Nase vorbei hinab auf seinen früheren Schüler. »Rhonin … so wie die Dinge sich ursprünglich zugetragen haben, wurde die Legion nach einem schrecklichen, blutigen Krieg besiegt, dem Vorläufer jener Ereignisse, die unsere eigenen Zeit heimsuchen sollten.«

»Ja, natürlich, aber …«

Krasus vergaß offensichtlich seine Sorge darüber, dass Cenarius sie belauschen könnte, und packte Rhonin an den Schultern. Trotz der Schwäche des älteren Magiers gruben sich seine langen Finger schmerzhaft ins Fleisch des Menschen. »Verstehst du denn immer noch nicht? Rhonin, dadurch, dass wir hierher gekommen sind, dadurch, dass wir einfach hier sind … haben wir vielleicht die Geschichte verändert! Es könnte sein, dass unser Erscheinen jetzt dafür verantwortlich ist, dass die Brennende Legion dieses Mal den ersten Krieg gewinnt … und das würde nicht nur den Tod vieler Unschuldiger in dieser Zeit bedeuten, sondern es würde auch unsere eigene … auslöschen