Es hatte Einiges an Überzeugungskraft bedurft, Illidan für Malfurions plötzlichen und tollkühnen Plan zu gewinnen, und Malfurion zweifelte nicht daran, dass der entscheidende Faktor nicht seine eigenen Argumente gewesen waren, sondern vielmehr Tyrandes leidenschaftliche Bitte. Unter ihrem Blick war selbst Illidan dahingeschmolzen und hatte sich bereit erklärt zu helfen, obwohl er für den Gefangenen nicht das Geringste übrig hatte. Malfurion wusste, dass irgendetwas zwischen seinem Bruder und dem Orc vorgefallen war, das auch mit Tyrande zu tun hatte. Die Novizin hatte diese gemeinsame Erfahrung benutzt, um Illidan auf ihre Seite zu bringen.
Jetzt musste sein Plan nur noch Erfolg haben.
Die vier Soldaten umstanden wachsam den Käfig, jeder der Männer auf eine andere Ecke des Kompass konzentriert. Bald würde die Sonne aufgehen, und der Marktplatz war bis auf die Soldaten und den Orc leer. Die meisten Nachtelfen schliefen jetzt. Es war die perfekte Zeit, um zuzuschlagen.
»Ich übernehme die Soldaten«, schlug Illidan vor und hatte seine linke Hand bereits zur Faust geballt.
Malfurion hielt das für keine gute Idee. Er stellte die Fähigkeiten seines Bruders nicht in Zweifel, doch wollte er auch, dass den Wachen, die nur ihre Pflicht taten, kein bleibender Schaden erwuchs. »Nein. Ich sagte, ich würde mich um sie kümmern. Gib mir einen Moment.«
Er schloss die Augen und entspannte sich, wie Cenarius es ihm beigebracht hatte. Malfurion zog sich aus der Welt zurück und sah sie gleichzeitig klarer, schärfer. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
Als er sie darum bat, erschienen die notwendigen Elemente der Natur, um ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Ein kühler, sanfter Wind streichelte das Gesicht jedes Soldaten mit der Zärtlichkeit einer Geliebten. Mit dem Wind kamen die beruhigenden Gerüche der Blumen, aus dem Wald um Suramar, und der schmeichelnde Ruf eines nahen Nachtvogels. Diese verlockende Kombination umfing alle vier Männer und zog sie, ohne dass sie es bemerkten, in eine friedliche, angenehme und sehr tiefe Lethargie, die sie der wachen Welt gegenüber blind machte.
Zufrieden, dass die Wachen unter seinen Bann geraten waren, blinzelte Malfurion. Dann flüsterte er: »Kommt …«
Illidan zögerte und folgte erst, als auch Tyrande hinter seinem Bruder auf den offenen Platz trat. Die drei jungen Nachtelfen gingen langsam auf den Käfig und die Soldaten zu. Trotz der Hoffnung, dass sein Zauber halten würde, war Malfurion auch darauf gefasst, dass die vier Männer in ihre Richtung blicken könnten. Doch selbst als er und seine Gefährten nur noch wenige Yards entfernt waren, schienen die Soldaten nichts von ihrer Anwesenheit zu bemerken.
»Es hat funktioniert …«, flüsterte Tyrande staunend.
Illidan hielt vor dem vordersten Mann an und wedelte mit der Hand vor dessen Augen – nichts passierte. »Ein netter Trick, Bruder, aber wie lange wird er halten?«
»Ich weiß es nicht. Deshalb müssen wir uns beeilen.«
Tyrande kniete vor dem Käfig und spähte hinein. »Ich glaube, Broxigar steht ebenfalls unter deinem Zauber, Malfurion.«
Und tatsächlich lehnte der riesige Orc zusammengesunken gegen den hinteren Teil seines Gefängnisses, und seine stumpfen Augen blickten durch Tyrande hindurch. Er bewegte sich nicht, selbst dann nicht, als sie leise seinen Namen rief.
Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, schlug Malfurion vor: »Berühre ihn leicht am Arm und versuche es noch einmal mit seinem Namen. Sorge dafür, dass er dich sofort sieht, und bedeute ihm, dass er sich still verhalten soll.«
Illidan fürchte die Stirn. »Der schreit bestimmt sofort.«
»Der Zauber wird halten, Illidan, aber du musst bereit sein, deinen Teil beizutragen, wenn die Zeit kommt.«
»Ich bin nicht derjenige, der uns in Gefahr bringt«, versetzte Malfurions Bruder naserümpfend.
»Seid still, ihr beiden …« Tyrande griff in den Käfig und berührte den Orc vorsichtig am Oberarm, während sie erneut seinen Namen flüsterte.
Brox fuhr auf. Seine Augen weiteten sich, und sein Mund öffnete sich zu etwas, das mit Sicherheit ein ohrenbetäubender Schrei werden sollte.
Doch ebenso schnell klappte der Mund wieder zu, und das einzige Geräusch, das ihm entfuhr, war ein leichtes Grunzen. Der Orc blinzelte mehrmals, als sei er sich nicht sicher, ob er überhaupt seinen Augen trauen durfte. Dann berührte Tyrande seine Hand, nickte dem Orc zu und blickte wieder in Brox’ Augen.
Malfurion sah sich zu seinem Bruder um und flüsterte: »Jetzt! Schnell!«
Illidan griff hinab und murmelte gleichzeitig Worte. Als er die Gitterstäbe ergriff, loderten seine Hände in einem hellen Gelb auf, und der Käfig selbst wurde plötzlich von roter Energie erfasst. Ein leichtes Summen war zu hören.
Malfurion schielte mit angehaltenem Atem nervös zu den Soldaten hinüber, aber selbst dieses wundersame Schauspiel blieb von ihnen unbemerkt. Er atmete erleichtert aus und sah zu, wie Illidans Zauber sein Werk verrichtete.
Die Nachtelfen-Zauberei hatte gewisse Vorteile, und sein Bruder hatte gelernt, sie einzusetzen. Das erstaunliche gelbe Leuchten um seine Hände griff auf den Käfig über und verschlang schnell das rote Glühen. Schweiß tropfte von Illidans Stirn, als er seinen Zauber voran trieb, aber er stockte nicht ein einziges Mal.
Schließlich ließ er los und fiel zurück. Malfurion fing seinen Bruder auf, bevor dieser gegen einen der Wachleute stolpern konnte. Illidans Hände leuchteten noch für ein paar Sekunden nach. »Du kannst den Käfig jetzt öffnen, Tyrande …«
Sie berührte die Tür von Brox’ Käfig, die sofort aufschwang.
»Die Ketten«, erinnerte Malfurion seinen Zwilling.
»Natürlich, Bruder. Das habe ich nicht vergessen.«
Illidan trat in den Käfig und setzte sich vor den Orc. Er griff nach dessen Fesseln, aber Brox reagierte nicht sofort, und seine Augen wurden gefährlich schmal, als er den Nachtelf erblickte. Tyrande musste die Hände des Orcs nehmen und sie zu ihrem Gefährten führen.
Mit weiteren gemurmelten Worten berührte Malfurion eine der Ketten am Schloss. Die Handfesseln schnappten auf wie kleine Mäuler, die hungrig darauf warteten, gefüttert zu werden.
»Seht ihr, klappt doch alles hervorragend«, meinte Illidan mit einem überaus selbstzufriedenen Lächeln.
Der Orc trat langsam heraus. Sein Körper war durch die Enge des Käfigs steif geworden. Er nickte knapp in Illidans Richtung, um seine Dankbarkeit zu bekunden, doch dann suchte sein Blick auch schon Tyrande.
»Broxigar, hör mir gut zu. Ich will, dass du mit Malfurion gehst. Er wird dich an einen sicheren Ort führen. Dort werde ich dich später treffen.«
Dieser Teil des Plans hatte zunächst einen kleinen Streit zwischen Tyrande und Malfurion entfacht, denn die Novizin hatte den Orc persönlich in Sicherheit bringen wollen. Malfurion hatte sie jedoch schließlich – mit Illidans mehr als bereitwilliger Unterstützung – davon überzeugen können, dass es schon genug Ärger geben würde, wenn man Brox’ Flucht entdeckte. Und wenn auch noch Tyrande, die sich vor aller Augen um ihn gekümmert hatte, fort wäre … nun, die Mondgarde würde nicht lange brauchen, um zwei und zwei zusammenzuzählen.
»Sie würden den Zusammenhang schnell herstellen«, hatte Malfurion sie eindringlich beschworen. »Du warst die Einzige, die ihm geholfen hat. Darum musst du hier bleiben. Sie werden wahrscheinlich nicht so bald an mich denken, und selbst wenn sie es tun, bezweifle ich, dass sie dir die Schuld geben werden. Du bist eine Dienerin der Elune. Dass du mich kennst, ist kein Verbrechen, das sie dir zur Last legen können.«
Obwohl Tyrande nachgegeben hatte, gefiel ihr der Gedanke, dass Malfurion alle Verantwortung auf sich nahm, immer noch nicht. Ja, er war derjenige, der auf diesen tollkühnen Plan gekommen war, doch sie war es gewesen, die das Ganze eingeleitet hatte, indem sie Malfurion den gefangenen Orc vorstellte.