Krasus fühlte, wie sich eine Präsenz regte, wenn auch nur sehr verhalten. Dem Beobachter war das plötzliche Eindringen in seine Gedanken unangenehm, und er war noch nicht bereit, sich zu offenbaren.
Ich könnte dir vieles sagen, das ich vor dem Herrn des Waldes geheim halten musste … doch ich würde es vorziehen, wenn ich nicht mit einem Baumstamm sprechen müsste …
Du bringst uns beide in Gefahr, antwortete schließlich ein etwas arrogant klingender Geist. Der Halbgott könnte uns seinerseits beobachten.
Der Drachenmagier verbarg seine Freude über die Antwort hinter einer Maske stoischer Gelassenheit. Du weißt so gut wie ich, dass er nicht hier ist … und vor den Augen jedes anderen Betrachters kannst du uns tarnen.
Eine kleine Weile lang geschah nichts. Krasus fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Dann riss sich plötzlich ein Teil des Stammes von dem Baum los und nahm eine humanoide Gestalt aus durchfurchter Rinde an. Als das große Wesen näher trat, verschwand die Borke und verwandelte sich in lange, fließende Gewänder und ein schmales Gesicht, das durch einen Zauber in undurchdringliche Schatten gehüllt war. Diese Art von Magie war Krasus wohlbekannt, und auf eine seltsame Weise tat es ihm gut, in dieser fernen Zeit auf etwas so Vertrautes zu treffen.
In Kleidung gehüllt, die die Farbe der Bäume hatte, hielt die praktisch gesichtslose Gestalt an der äußersten Grenze der magischen Lichtung inne. Unsichtbare Augen studierten Krasus von Kopf bis Fuß, und obwohl der gefangene Magier in keinem Mienenspiel lesen konnte, war er sicher, dass der andere frustriert war.
»Wer bist du?«, fragte der Beobachter leise.
»Man könnte sagen, ein verwandter Geist.«
Darauf reagierte der andere mit einem gewissen Unglauben. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst …«
»Ich weiß genau, wovon ich spreche«, erwiderte Krasus mit fester Stimme. »Ebenso weiß ich, dass sie, die man Alexstrasza nennt, die Königin des Lebens ist. Er, der den Namen Nozdormu trägt, ist die Zeit selbst. Ysera ist die von den Träumen, und Malygos die inkarnierte Magie …«
Die Gestalt brauchte einen Augenblick, um die Namen zu verdauen. Dann schien es, als warte sie auf etwas, und als Krasus schwieg, flüsterte sie: »Du hast jemanden vergessen.«
Krasus unterdrückte ein Keuchen und nickte. »Und Neltharion ist die Erde und der Fels, der Wächter des Landes.«
»Nur wenige außerhalb meines Volkes kennen diese Namen, aber ein paar kennen sie. Unter welchem Namen könnte ich dich kennen, wenn ich dich für einen von meiner Art hielte?«
»Man kennt mich als … Korialstrasz.«
Der andere lehnte sich zurück. »Dies ist ein Name, den ich kenne, gehört er doch einem Gemahl der Königin des Lebens – doch hier stimmt etwas nicht. Ich habe seit deiner Gefangennahme alles beobachtet, und du verhältst dich nicht wie einer von meiner Art. Cenarius ist mächtig, sehr mächtig, aber er sollte dich nicht so einfach gefangen halten können, nicht den, den man Korialstrasz nennt …«
»Ich wurde schwer verletzt.« Krasus unterstrich seine Erklärung mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Aber wir haben wenig Zeit! Ich muss Alexstrasza erreichen und ihr sagen, was ich weiß! Kannst du mich zu ihr bringen?«
»Einfach so? Du besitzt tatsächlich die Arroganz eines Drachens! Warum sollte ich es riskieren, die Wut des Waldgottes auf alle Drachen zu ziehen? Nur weil du mir einreden willst, du seiest selbst ein Drache? Cenarius würde erkennen, dass er beobachtet wird, und dementsprechend handeln.«
»Warum? Nun, weil die mögliche Bedrohung dieser Welt – unserer Welt – wichtiger ist als die beleidigte Würde eines Halbgottes.« Der Drachenmagier atmete tief ein und fuhr fort: »Und wenn du es mir erlaubst, werde ich dir enthüllen, was ich meine …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir vertrauen soll«, sagte der Beobachter und legte seinen Kopf auf die Seite. »Doch bei deinem Zustand glaube ich nicht, dass ich viel von dir zu befürchten habe. Wenn du kannst … dann zeige mir, was deine Worte so mit Sorge erfüllt.«
Krasus sparte sich einen Kommentar, aber er mochte den anderen Drachen immer weniger. »Wenn du bereit bist …«
»Tu es.«
Ihre Geister berührten einander … und Krasus enthüllte die Wahrheit.
Unter der machtvollen Brandung der Bilder wich der andere Drache zurück. Der Schattenzauber um seinen Kopf löste sich für einen Augenblick auf und ließ eine seltsame Mischung aus reptilischen und elfischen Zügen erkennen, die in einem Ausdruck absoluten Unglaubens gefroren waren.
Doch die Schatten kehrten so schnell zurück, wie sie verschwunden waren, und obwohl ihm das, was er gerade geschaut hatte, offenkundig noch zu schaffen machte, gewann der Beobachter einen Teil seiner Fassung zurück. »Das ist unmöglich …«
»Ich fürchte, es ist eher wahrscheinlich.«
»Das sind Hirngespinste, die du selbst erfunden hast!«
»Ich wünschte, dem wäre so«, erklärte Krasus traurig. »Verstehst du jetzt, warum ich mit der Königin sprechen muss?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Was du verlangst, ist –«
Plötzlich erstarrten beide Drachen. Sie spürten gleichzeitig, wie sich eine überwältigende Macht näherte.
Cenarius! Der Halbgott kehrte unerwartet zurück!
Sofort floh der Beobachter von der Lichtung. Krasus, der fürchtete, seine einzige Chance verloren zu haben, rief ihm nach: »Nein! Du musst mir helfen! Ich muss mit Alexstrasza sprechen!«
Er streckte seinen Arm in Richtung des Fliehenden aus und griff dabei über die Blumen hinweg. Die Blüten reagierten, öffneten sich sofort und besprühten ihn mit ihrem magischen Staub.
Krasus’ Welt verschwamm. Er taumelte vorwärts, stürzte in ihre Mitte.
Plötzlich fingen ihn starke Arme auf. Er hörte ein leises, besorgtes Zischen und wusste, dass der andere Drache ihn gepackt hatte.
»Ich bin ein Narr, dasss ich dasss tue!«, hörte Krasus ein wütendes Flüstern.
Krasus dankte dem Beobachter still für seine Entscheidung. Doch dann überwältigte jähes Begreifen den zusammenbrechenden Magier. Er versuchte, etwas zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur ein unartikuliertes Stöhnen.
Als die Welt um ihn herum schwarz wurde, galten seine letzten Gedanken nicht länger der Dankbarkeit gegenüber dem anderen Drachen, der ihm endlich half … sondern nur noch der enttäuschten Wut auf sein eigenes Versagen. Weil er nicht dafür hatte sorgen können, dass der andere auch Rhonin mitnahm.
Die Panther eilten durch den dichten Wald, und der unglückselige Brox hatte große Schwierigkeiten, nicht den Halt auf seiner Katze zu verlieren. Obwohl er daran gewöhnt war, die riesigen Wölfe zu reiten, die seinem Volk dienten, waren die Bewegungen dieser Geschöpfe auf eine schwer beschreibbare Weise anders. Sie brachten den Orc in Not, und er klammerte sich verzweifelt an die Zügel.
Er konnte vor sich gerade noch Malfurions schattenhafte Gestalt ausmachen, der tief über sein eigenes Tier gebeugt ritt und es mal in eine Richtung, mal in eine andere trieb. Brox war froh, dass sein Befreier überhaupt einen Weg kannte, gleichzeitig hoffte er, dass die beschwerliche Reise nicht mehr lange dauern würde.
Bald würde die Sonne aufgehen. Der Orc hatte dies für etwas Schlechtes gehalten, denn dann würde man sie schon aus großer Entfernung erkennen können. Aber Malfurion hatte angedeutet, dass ihnen der Tagesanbruch zum Vorteil sein würde. Falls die Mondgarde sie verfolgte, würden die Fähigkeiten der elfischen Zauberer nachlassen, sobald die Finsternis schwand.
Aber natürlich gab es dann noch immer die Soldaten, die ihnen auf den Fersen waren.
Hinter sich hörte Brox die immer lauter werdenden Geräusche der Verfolger. Hörner, ferne Schreie, das gelegentliche Knurren eines Panthers. Er hatte geglaubt, das Malfurion einen besseren Plan hatte, als einfach nur darauf zu hoffen, die anderen Reiter abhängen zu können. Doch offenbar war dies nicht der Fall. Sein Befreier war kein Krieger, sondern lediglich eine Seele, die versucht hatte, das Richtige zu tun.