Die Wahrheit wird sich zu erkennen geben, beharrte die Erste. Es ist mir stets gelungen, sie zu finden …
Rhonin schien außerhalb seines Körpers zu schweben, aber er wusste nicht, wo. Er fühlte sich, als hinge er zwischen Leben und Tod, Schlaf und Erwachen, Dunkelheit und Licht … nichts erschien ihm richtig, nichts erschien ihm völlig falsch.
Es reicht!, meldete sich eine dritte Stimme, die ihm bekannt vorkam. Er hat schon genug durchlitten. Lasst ihn zu mir zurückkehren … für den Augenblick.
Und plötzlich erwachte Rhonin im Tal des Cenarius.
Die Sonne stand hoch über ihm, aber er konnte nicht sagen, ob es wirklich Mittag war oder ob ihm der magische Ort nur etwas vorgaukelte.
Rhonin versuchte sich zu erheben, aber sein Körper gehorchte ihm noch immer nicht.
Er hörte, wie sich etwas bewegte und sah den gehörnten Waldgott vor sich.
»Ihr seid voller Kraft, Magier Rhonin«, donnerte Cenarius’ Stimme. »Ihr habt mich überrascht, was selten geschieht … und was noch wichtiger ist, Ihr habt Eure Geheimnisse für Euch behalten, wie dumm das auch sein mag.«
»Es … es gibt nichts … das ich Euch verraten könnte.« Es verwunderte Rhonin, dass sein Mund ihm gehorchte.
»Das werden wir sehen. Wir werden erfahren, was Eurem Begleiter widerfahren ist und warum Ihr, der Ihr nicht hier sein solltest, doch hier seid.« Der Gesichtsausdruck des Halbgottes wurde milder. »Aber jetzt möchte ich, dass Ihr Euch ausruht. Das habt Ihr verdient.«
Er strich mit der Hand über Rhonins Gesicht … und der Magier schlief ein.
Krasus selbst hätte liebend gern gewusst, wo er war. Die Höhle, in der er erwacht war, weckte keine Erinnerung in ihm. Er nahm kein anderes Wesen wahr, auch keines seiner eigenen Art, und das beunruhigte ihn. Hatte der Wächter ihn nur hierher gebracht, um ihn loszuwerden? Wollte er, dass Krasus hier starb?
Die Gefahr, dass Letzteres eintreten würde, war groß. Schmerz und Erschöpfung nagten an dem hageren Körper des Drachenmagiers. Krasus fühlte sich, als habe jemand einen Teil aus ihm herausgerissen. Sein Gedächtnis war immer noch voller Lücken, und er befürchtete, dass seine Schwäche weiter zunehmen würde, ihm nur noch wenig Zeit blieb.
Nein! Ich werde mich nicht der Verzweiflung hingeben! Nicht ich! Er zwang sich zum Aufstehen und sah sich um. Für einen Menschen oder einen Orc wäre die Höhle absolut dunkel gewesen, aber Krasus vermochte das Innere fast so gut zu erkennen, als läge es im Licht des Tages. Er sah gewaltige, spitz zulaufende Stalaktiten und Stalagmiten, Risse und Vorsprünge in den Wänden und bemerkte sogar die kleinen blinden Echsen, die über den Fels huschten.
Leider entdeckte er keinen Ausgang.
»Ich habe keine Zeit für diese Spiele!«, zischte er in den leeren Raum hinein. Seine Worte hallten von den Wänden wider, schienen ihn mit jedem Echo verhöhnen zu wollen.
Etwas musste ihm entgangen sein. Man hatte ihn gewiss aus einem ganz bestimmten Grund hierher gebracht … aber aus welchem?
Dann erinnerte sich Krasus an die Bräuche seines Volks, Bräuche, die auf Nicht-Drachen äußerst grausam wirken konnten. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Der Magier richtete sich auf und drehte sich langsam im Kreis, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Gleichzeitig rezitierte er eine rituelle Begrüßung, geschrieben in einer Sprache, die älter als die Welt war. Er wiederholte die Grußformel dreimal und betonte die Nuancen in einer Weise, die nur jemand kennen konnte, der die Sprache in ihrer Urform erlernt hatte.
Wenn er damit nicht die Aufmerksamkeit seiner Wächter erregte, wusste er auch nicht mehr weiter.
»Es spricht die Sprache derer, die Himmel und Erde an ihren Platz rückten«, donnerte jemand. »Die, die uns erschaffen haben.«
»Es muss zu uns gehören«, sagte ein anderer, »denn es gehört sicherlich nicht zu ihnen.«
»Wir müssen mehr erfahren.«
Und plötzlich erschienen sie wie aus dem Nichts rund um die kleine Gestalt … Vier gewaltige rote Drachen setzten sich neben Krasus. Ihre weltumspannenden Flügel falteten sie würdevoll hinter ihnen zusammen. Sie betrachteten den Magier, als sei er ein kleiner, aber schmackhafter Krümel Nahrung.
Wenn sie glaubten, damit seine scheinbar primitiven Sinne erschrecken zu können, so lagen sie damit erneut falsch.
»Sicherlich einer von uns«, murmelte ein schwerer männlicher Drache, dessen Geschlecht an seinem Schuppenkamm zu erkennen war. Er schnaubte und schickte Rauchwolken in Krasus’ Richtung.
»Dasss isst der Grund, ausss dem ich ihn herbrachte«, entgegnete ein kleinerer Leviathan bitter. »Dasss … und ssseine ständigen Klagen …«
Krasus, den der Rauch nicht störte, wandte sich gelassen an ihn. »Wenn du die Vernunft gebraucht hättest, die dir der Schöpfer gegeben hat, dann hättest du mich und die Dringlichkeit meiner Warnung sofort erkannt! Wir hätten uns den chaotischen Rückzug aus dem Reich des Waldgottes sparen können.«
»Ich bin mir immer noch nicht sssicher, dasss es kein Fehler war, dich hierher zu bringen!«
»Wo ist hier?«
Alle vier Drachen legten überrascht den Kopf zurück, und einer der beiden weiblichen antwortete. »Wenn du wirklich zu uns gehörst, kleiner Drache, dann sollte dir dieser Ort so vertraut sein wie dein Nest …«
Krasus verfluchte seine fehlende Erinnerung. Es konnte sich nur um einen Ort handeln. »Dann bin ich in den Heimathöhlen? Im Reich der geliebten Alexstrasza, der Königin des Lebens?«
»Du wolltest hierher kommen«, erinnerte ihn der kleinere Drache.
»Aber …«, unterbrach ihn der zweite weibliche Drache. Sie war jünger und schlanker als die anderen. »Kommt er von hier aus auch noch weiter?«
»Er kommt so weit, wie er wünscht«, mischte sich eine neue Stimme ein. »Wenn er mir eine einfache Frage beantworten kann.«
Die vier Leviathane und Krasus drehten sich um und entdeckten einen fünften und offensichtlich wesentlich älteren Drachen, der plötzlich hinter ihnen saß. Im Gegensatz zu den beiden anderen männlichen Drachen verfügte er über einen prächtigen Schuppenkamm, der vom Kopf bis über die Schultern verlief. Er übertraf das Gewicht der anderen Drachen um mehrere Tonnen, und allein schon seine Klauen waren bereits größer als die kleine Gestalt in der Mitte zwischen den Giganten.
»Wenn du trotz der Verkleidung, die du trägst, wirklich zu uns gehörst«, donnerte der Drachen, »musst du wissen, wer ich bin.«
Der Magier kämpfte mit seiner lückenhaften Erinnerung. Natürlich wusste er, wer das war, aber der Name fiel ihm einfach nicht ein. Sein Körper verkrampfte sich, und sein Blut schien zu kochen, während er gegen den Nebel in seinem Geist ankämpfte. Krasus wusste, dass er den Namen des Riesen nennen musste, sonst würde man ihn verstoßen, und er würde die anderen niemals vor der Gefahr warnen können, die seine Anwesenheit in dieser Zeit möglicherweise darstellte.
Und dann, nach einer gewaltigen Anstrengung, stieß er den Namen, den er so gut wie seinen eigenen hätte kennen sollen, endlich hervor. »Du bist Tyranastrasz … Tyran, der Gelehrte, Gefährte von Alexstrasza!«
Der Stolz in seiner Stimme, als er sich an Namen und Titel des dunkelroten Riesen erinnerte, musste deutlich hörbar gewesen sein, denn Tyranastrasz lachte lauthals auf – beinahe wie ein Mensch.
»Du gehörst tatsächlich zu uns, auch wenn ich dich nicht erkenne. Der, der dich herbrachte, hat mir einen Namen genannt, aber er ist offensichtlich falsch, denn bei uns wird ein Name nur ein einziges Mal vergeben.«
»Er ist nicht falsch«, beharrte der Drachenmagier. »Und ich kann dir auch erklären, warum er es nicht ist.«
Alexstraszas Gefährte schüttelte sein mächtiges Haupt. Rauch kräuselte sich aus seinen Nüstern empor. »Die Erklärung, die du genannt hast, wurde uns berichtet, doch sie ist so unglaublich, dass sie nicht wahr sein kann. Was du sagst, gehört ins Reich von Nozdormu, dem Zeitlosen. Aber selbst er wäre nicht so unvorsichtig die Dinge zu tun, die du unterstellst.«