»Einer kommt gerade«, verkündete Ysera.
Die Decke warf Falten und begann zu leuchten. Eine riesige geflügelte Gestalt erschien und glitt in weit ausholenden Kreisen dem Boden entgegen. Die anderen Aspekte schwiegen respektvoll und sahen zu, wie sich der gewaltige Drache näherte.
Er war größer als die anderen Drachen, ein geflügelter Leviathan so schwarz wie die Nacht und mit mehr Würde, als selbst die kühnsten Darstellungen eines Drachen zeigen konnten. Schmale Streifen aus echtem Silber und Gold durchzogen seinen Körper bis zum Schwanz und betonten den Rücken und die Flanken. Glitzernde Blitze zwischen den Schuppen ließen die Diamanten erahnen, die sich dahinter verbargen. Von dem Ankömmling ging eine Aura uralter Macht aus, ähnlich der Kräfte, aus denen die Welt an ihrem Anfang beschaffen gewesen sein mochte.
Er landete hinter den anderen und faltete seine großen Flügel majestätisch zusammen. Mit tiefer, volltönender Stimme sagte der schwarze Drache: »Du hast gerufen, und ich bin gekommen. Ich freue mich immer, meine Freundin Alexstrasza zu sehen …«
»Und ich heiße dich willkommen, mein lieber Neltharion.«
Krasus hatte eben schon große Schwierigkeiten gehabt, Malygos zu ignorieren. Nun aber kämpfte er darum, nicht zu erzittern und mit keinem Wimpernschlag anzudeuten, wie sehr ihn Neltharions Gegenwart berührte. Als er Malygos sah, hatte er an das schreckliche Schicksal denken müssen, das dem Wächter der Magie bevorstand, doch jetzt machte sich Krasus Sorgen um das Schicksal aller Drachen … und das der Welt, sollte sie die Brennende Legion weiter bestehen.
Vor ihm stand Neltharion.
Neltharion, der Wächter der Erde. Er war der Aspekt, den man am stärksten respektierte und außerdem eng mit Krasus’ geliebter Königin befreundet. Wäre Neltharion Teil ihres eigenen Schwarms gewesen, hätte sie ihn sicherlich schon längst als einen ihrer Gefährten erwählt. Abgesehen von ihnen war auch der Wächter der Erde der, den Alexstrasza aufsuchte, wenn sie Rat brauchte, denn der ernste schwarze Drache hatte einen scharfen Verstand. Neltharion handelte nur, wenn er alle Konsequenzen bedacht hatte, und als junger Drache hatte Krasus oft versucht, ihm nachzueifern.
Doch in der Zukunft, in die der Magier gehörte, hätte jeder Gedanke an ein Nacheifern Neltharions puren Wahnsinn bedeutet. Neltharion hatte den Schutz, den die Aspekte den Sterblichen boten, abgelehnt. Stattdessen hatte er sich auf den Standpunkt zurückgezogen, die niederen Völker trügen die Schuld an allem Bösen, das in der Welt war. Er hatte beschlossen, sie zu entfernen … und all jene, die ihnen Beistand leisteten.
In dieser Zukunft träumte Neltharion von einer Welt, in der die Drachen – vor allem sein eigener Schwarm – über alles herrschten. Diese wachsende Besessenheit trieb ihn zu zahllosen dunklen Taten, Taten, die so grässlich waren, dass Neltharion schließlich zu einer ebenso großen Gefahr für die Welt wurde, wie die Brennende Legion. Die anderen Aspekte hatten sich schließlich gegen ihn zusammengeschlossen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits furchtbare Verwüstungen angerichtet.
Als er alles, was er einmal war, ablehnte, verleugnete Neltharion auch seinen Namen. Seine ehemaligen Freunde gaben ihm einen neuen, unter dem er allen Wesen bekannt wurde und der schließlich zum Synonym für das Böse werden sollte.
Deathwing …
Dort vor Krasus stand also Deathwing, der Zerstörer. Doch der Drachenmagier konnte die anderen nicht warnen. Tatsächlich war es so, dass Krasus zwar wusste, zu welcher Gefahr Neltharion erwachsen würde, aber er konnte sich nicht erinnern, wo und wann die Tragödie ihren Anfang genommen hatte. Wenn er jetzt, an diesem kritischen Punkt, Misstrauen unter den Aspekten säte, beschwor er eine Katastrophe, die vielleicht noch größer war als die, die der Erdwächter in der Zukunft verkörperte.
Und doch …
»Ich war überrascht, dass Ysera mich benachrichtigte und nicht du«, sagte der Schwarze. »Geht es dir gut, Alexstrasza?«
»Ja, Neltharion.«
Er betrachtete ihre Begleiter. »Und dir, junger Korialstrasz? Dir scheint es nicht gut zu gehen.«
»Eine vorübergehende Krankheit«, antwortete der rote Drache respektvoll. »Es ist mir eine Ehre, Euch wiederzusehen, Wächter der Erde.«
Sie unterhielten sich wie Bekannte und doch erinnerte sich Krasus, dass Neltharion ihn als Deathwing kaum erkannt hatte. Zur Zeit der Orc-Kriege war der schwarze Riese dem Wahnsinn bereits so lange verfallen gewesen, dass er vergangene Freundschaften längst vergessen hatte. Nichts außer seinem dunklen Ziel hatte für ihn gezählt.
Aber hier war Neltharion immer noch sein Verbündeter. Er blickte über Korialstrasz’ Kopf hinweg auf die kleine, angespannte Gestalt. »Du bist also derjenige. Hast du einen Namen?«
»Krasus!«, schnappte der Magier. »Krasus!«
»Ein mutiger kleiner Mann«, sagte Neltharion amüsiert. »Ich glaube, dass er tatsächlich ein Drache ist, so wie Ysera es angedeutet hat.«
»Ein Drache, der eine Geschichte zu erzählen hat«, fügte Alexstrasza hinzu. Sie blickte empor zur Decke, zu der Stelle, wo sie und die anderen in die Höhle gelangt waren. »Aber ich würde es vorziehen, Nozdormu noch etwas Zeit zu lassen, bevor wir beginnen.«
»Du willst dem Zeitlosen mehr Zeit geben?« Malygos lachte. »Wie nett! Ich werde den schlechtgelaunten Nozdormu erst gehen lassen, wenn er sich dazu geäußert hat.«
»Und du wirst ihn bestimmt zeitig daran erinnern, nicht wahr?«, gab Neltharion zurück. Er grinste breit.
Malygos lachte noch lauter. Er und Neltharion traten beiseite und begannen sich zu unterhalten.
»Sie mögen vielleicht nicht vom gleichen Geblüt sein«, sagte Ysera und folgte ihnen mit Blicken aus ihren geschlossenen Augen. »Aber sie sind Brüder im Geiste.«
Alexstrasza stimmte zu. »Es ist gut, dass Neltharion sich mit Malygos beschäftigt. Mir gegenüber hat er sich in der letzten Zeit sehr schweigsam verhalten.«
»Ich spüre seine Distanz ebenfalls. Die Taten der Nachtelfen erfüllen ihn nicht eben mit Freude. Er sagte einmal, sie hätten den größenwahnsinnigen Wunsch, wie die Schöpfer zu werden, ohne deren Wissen und Weitsicht zu besitzen.«
»Damit hat er vielleicht Recht«, antwortete die Königin des Lebens. Ihre Blicke glitten zu Krasus.
Der Magier fühlte sich unwohl unter ihrem Blick. Alexstrasza war es, die seine Warnung am dringlichsten benötigte. Durch Deathwings Taten war sie zu einer Sklavin der Orcs geworden, und ihre Kinder waren skrupellos dem Kampf geopfert worden. Deathwing hatte die letzten Tage des Orc-Kriegs genutzt, um nach dem zu suchen, wonach ihn wirklich gelüstete … nach den Eiern der Königin des Lebens. Seinen eigenen Schwarm hatte er durch seine wahnsinnigen Pläne beinahe ausgelöscht.
Welche Grenze ziehe ich?, fragte Krasus sich selbst. Wann werde ich sie endgültig überschreiten? Ich kann nichts über die Orcs preisgeben, nichts über den Verrat des Erdwächters, nichts über die Brennende Legion … ich kann ihnen nur so viel sagen, dass es wahrscheinlich genügen wird, mich und Rhonin hinzurichten!
Frustriert starrte er einen der Gründe für sein Problem an. Neltharion unterhielt sich freundlich mit Malygos, der den anderen wartenden Drachen den Rücken zuwandte. Der große Schwarze streckte seine Flügel aus und nickte zu einer Bemerkung seines glitzernden Gesprächspartners. Wären sie Menschen, Zwerge oder Angehörige eines anderen sterblichen Volks gewesen, hätte man sich die beiden auch biertrinkend in einer Taverne vorstellen können. Die niederen Völker betrachteten die Drachen entweder als monströse Bestien oder als würdevolle Weise – doch in Wirklichkeit waren ihre Persönlichkeiten in mancher Weise so erdverbunden wie die der Wichte, über die sie wachten.
Neltharions Blicke lösten sich kurz von Malygos und wechselten zu Krasus.
Und in diesem kurzen Augenblick begriff Krasus, dass er und die anderen bisher nur die Fassade des Schwarzen gesehen hatten. Die Dunkelheit hatte bereits Besitz vom Wächter der Erde ergriffen.