Das ist unmöglich!, beharrte Krasus und versuchte verzweifelt, nichts von seinen Befürchtungen nach außen dringen zu lassen. Nicht jetzt schon! Zu einem so frühen und brisanten Zeitpunkt konnte Neltharions Verwandlung in Deathwing noch nicht beginnen. Die Aspekte mussten vereint und einig bleiben – nicht nur wegen der bevorstehenden Invasion, sondern auch wegen der Störung der Zeitlinie, die Krasus und sein ehemaliger Schüler ausgelöst hatten. Er musste sich in dem schwarzen Leviathan geirrt haben. Neltharion gehörte gewiss noch zu den sagenumwobenen Beschützern der Dimension der Sterblichen …
Krasus verfluchte seine fehlende Erinnerung. Wann hatte Neltharion mit seinem Verrat begonnen? Wann war er zum Schrecken allen Lebens geworden? Sollte es wirklich hier und jetzt beginnen – oder hatte Neltharion noch an der Seite der anderen gekämpft, obwohl die Dunkelheit ihn bereits umschlungen hielt?
Der Magier starrte den Wächter der Erde an. Trotz seines Versprechens fragte sich Krasus, ob er die Regeln nicht doch würde brechen müssen. Konnte es denn tatsächlich falsch sein, die Aspekte vor dem Schurken in ihrer Mitte zu warnen?
Neltharion blickte erneut zu ihm herüber … und dieses Mal blieben seine Augen auf Krasus ruhen.
Erst jetzt begriff Krasus, dass Neltharion den Funken des Wiedererkennens bei ihm bemerkt hatte. Der schwarze Drache schien zu wissen, dass hier jemand war, der sein furchtbares Geheimnis enthüllen konnte.
Krasus wollte wegsehen, aber seine Pupillen bewegten sich nicht. Zu spät erkannte er den Grund: Der Wächter der Erde hatte bemerkt, dass man sein wahres Ich durchschaut hatte – und schnell und entschlossen gehandelt. Er hielt Krasus mit der gleichen Leichtigkeit in seinem Bann, mit der er atmete.
Ich werde ihm nicht unterliegen! Er war entschlossen, eine Flucht zu versuchen, aber sein Wille erwies sich als nicht stark genug. Mit ein wenig Vorbereitung hätte Krasus den Kampf gegen Neltharions Geist vielleicht aufnehmen können, aber seine furchtbare Entdeckung hatte ihm die Konzentration geraubt … eine Gelegenheit, die der schwarze Drache sich nicht hatte entgehen lassen.
Du kennst mich … aber ich kenne dich nicht.
Die eiskalte Stimme erfüllte seinen Geist. Krasus betete, dass jemand bemerkte, was zwischen ihnen vorging, aber für die anderen musste es aussehen, als sei weiterhin alles in Ordnung. Es überraschte ihn, dass selbst seine geliebte Alexstrasza nicht die Wahrheit erkannte.
Du willst dich gegen mich wenden … willst, dass die anderen mich so sehen wie du … Du willst, dass sie ihrem alten Freund misstrauen … ihrem Bruder …
Die Worte des Wächters der Erde verrieten, wie tief der Wahnsinn bereits in ihm nistete. Krasus spürte den rasenden Verfolgungswahn in Neltharion und die brennende Überzeugung, dass niemand außer dem schwarzen Drachen wusste, was die Welt nötig hatte. Jeder, der auch nur die geringste Bedrohung für Neltharion darstellte, verkörperte in seinen Augen das Böse.
Ich werde dir nicht erlauben, deine boshaften Lügen zu verbreiten …
Krasus erwartete, auf der Stelle niedergestreckt zu werden, aber zu seiner Überraschung wandte sich Neltharion ab und setzte seine Unterhaltung mit Malygos fort.
Was spielt er für ein Spiel?, fragte sich der Drachenmagier. Zuerst droht er mir, dann ignoriert er meine Anwesenheit.
Er beobachtete den schwarzen Drachen misstrauisch, aber Neltharion schien ihn nicht einmal mehr zu bemerken.
»Er kommt nicht«, sagte Ysera schließlich.
»Vielleicht doch noch«, antwortete Alexstrasza. Krasus sah sie an und begriff, dass sie sich über Nozdormu unterhielten.
»Nein, ich habe mit dem gesprochen, der seinen Herrn suchen wollte. Er kann ihn nicht finden. Der Zeitlose hält sich jenseits der Welt der Sterblichen auf.«
Yseras Neuigkeiten waren ein schlechtes Omen. Krasus wusste einiges über Nozdormu und nahm an, dass die Diener des Zeitlosen ihn aufgrund der Anomalie nicht hatten kontaktieren können. Wenn allein Nozdormu, wie Krasus glaubte, die Zeit zusammen hielt, benötigte er jetzt jede Faser seiner Existenz. Viele Nozdormus würden gegen die Zeit kämpfen … da blieb niemand für diese Zusammenkunft übrig.
Krasus’ Hoffnung schwand weiter. Nozdormu war verschwunden und Neltharion wahnsinnig …
»Dann stimme ich dir zu«, antwortete Alexstrasza auf Yseras Worte. »Wir werden trotz des fehlenden Mitglieds beginnen. Es gibt keine Regel, die es uns verbietet, über die Angelegenheit zu sprechen, nachdem wir den Bericht gehört haben. Wir können nur keine Entscheidung über unser weiteres Vorgehen fällen.«
Korialstrasz senkte sein Haupt und ließ seinen Reiter absteigen. Mit ausdruckslosem Gesicht trat Krasus vor die versammelten Riesen und versuchte dabei, den Wächter der Erde nicht anzusehen. Alexstraszas Blicke ermutigten ihn, sodass der Drachenmagier wusste, was er zu tun hatte.
»Ich bin einer der Euren«, verkündete er mit einer Stimme, so laut wie die der ihn umgebenden Leviathane. »Die Königin des Lebens kennt meinen Namen, aber für den Augenblick bin ich einfach nur Krasus!«
»Er brüllt gut, der Kleine«, scherzte Malygos.
Krasus sah ihn an. »Das ist nicht die Zeit für Scherze, vor allem nicht, was Euch angeht, Wächter der Magie. Die Dinge sind aus dem Lot geraten. Ein furchtbarer Fehler, eine Störung der Realität bedroht alles … absolut alles!«
»Wie dramatisch«, kommentierte Neltharion beinahe gelangweilt.
Krasus musste sich zusammenreißen, um nicht die Wahrheit über den Schwarzen Drachen zu enthüllen. Zumindest noch nicht …
»Hört meine Geschichte«, beharrte Krasus. »Hört und versteht sie … denn am Horizont lauert eine weit größere Gefahr, eine, die uns betrifft. Hört zu …«
Doch als er die ersten Worte seiner Geschichte aussprechen wollte, musste Krasus erkennen, dass ihm seine Zunge nicht mehr gehorchte. Anstelle klarer Sätze stieß er nur unvollständige Silben hervor.
Die meisten versammelten Drachen zeigten sich verwirrt von seinem seltsamen Benehmen. Krasus blickte rasch zu Alexstrasza, suchte ihre Hilfe, aber sie wirkte ebenso irritiert wie die anderen.
Im Kopf des Magiers begann sich alles zu drehen. Schwindel übermannte ihn und ließ ihn taumeln. Schwachsinnige Worte kamen über seine Lippen, aber Krasus wusste ohnehin längst nicht mehr, was er hatte verkünden wollen.
Als seine Beine unter ihm nachgaben und der Schwindel ihn vollends übermannte, erklang unerwartet die tödlich sanfte Stimme von Neltharion in seinem Geist.
Ich hatte dich gewarnt …
17
Die Dunkelheit kam, und die Welt der Nachtelfen erwachte. Händler öffneten ihre Geschäfte, während die Gläubigen zum Gebet strömten. Die Nachtelfen lebten ihr Leben und fühlten sich wie an jedem anderen Abend. Sie konnten mit der Welt anstellen, was ihnen beliebte, ganz gleich, was die niederen Völker darüber denken mochten.
Aber einige stießen auf unerwartete Hemmnisse in ihrem täglichen Leben, Kleinigkeiten, die ihre tägliche Routine unterbrachen.
Ein hoher Magier der Mondgarde, der sein langes weißes Haar zum Zopf zusammengebunden trug, richtete geistesabwesend einen Finger auf eine Weinkaraffe auf der anderen Seite des Zimmers. Gleichzeitig studierte er eine Sternenkarte als Vorbereitung auf einen wichtigen Zauber, den sein Orden geplant hatte. Auch wenn er zu den ältesten Zauberern zählte, hatten seine Fähigkeiten nicht nachgelassen, deshalb behielt er auch weiterhin seine hohe Position. Zu zaubern war ebenso Teil seiner Existenz wie zu atmen. Man tat es einfach und ganz normal, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Der Knall, der ihn zusammenzucken und die Karte beinahe in der Mitte entzwei reißen ließ, stammte vom plötzlichen Aufprall der Karaffe auf dem Boden. Wein und Glas verteilten sich über den grün-roten Teppich, den der Zauberer erst kürzlich erworben hatte.