»Darauf kann ich vielleicht besser antworten«, sagte für alle unerwartet Rhonin.
Malfurion war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee von dem Fremden war, für sich selbst zu sprechen. Nachtelfen waren anderen Völkern gegenüber wenig tolerant. Es würde ihm auch nicht helfen, dass er seinem Volk ein wenig ähnelte – zumindest mehr als ein Troll.
Ravencrest schien ihm jedoch zuhören zu wollen, denn er winkte dem Zauberer wohlwollend zu.
»In meinem Land … einem Land, das nicht weit entfernt von seinem ist«, erklärte Rhonin und nickte Brox zu, »hat sich eine magische Anomalie geöffnet. Mein Volk sandte mich dorthin, und Brox’ Volk entsandte ihn. Wir entdeckten die Anomalie getrennt voneinander … und wurden gegen unseren Willen hineingezogen. Er kam an einem Ort an, ich an einem anderen.«
»Und wie hängt das mit dem jungen Malfurion zusammen?«
»Er glaubt – ebenso wie ich –, dass diese Anomalie durch die zauberische Aktivität entstand, die er bereits erwähnte.«
»Das wäre ein Grund zur Sorge«, bemerkte der ältere Mondgardist zögernd. »Aber die grünhäutige Kreatur wirkt nicht wie jemand, den man zur Inspektion eines magischen Vorgangs ausschicken würde.«
»Mein Kriegsherr hat befohlen, also bin ich gegangen«, versetzte Brox knurrend.
»Ich kann nicht für die Orcs sprechen«, antwortete Rhonin, »aber ich habe Erfahrung in diesen Dingen.« Seine Augen, die sich so krass von denen der Nachtelfen unterschieden, musterten den Zauberer provozierend.
Nach einer kurzen Pause nickten beide Mondgardisten zustimmend. Malfurion begriff, dass sie zwar nicht genau wussten, was Rhonin war, wohl aber erkannten, dass er die magischen Künste beherrschte. Vermutlich war dies auch der Grund, warum man dem Zauberer erlaubt hatte zu sprechen.
»Vielleicht werde ich alt, aber ich muss gestehen, dass ich einen Großteil dieser Geschichte glaube.« Dieses Geständnis Lord Ravencrests handelte ihm einige erstaunte Blicke seitens seiner Offiziere ein und löste eine Welle der Erleichterung in Malfurion aus. Wenn der Kommandant seine Geschichte ernst nahm …
»Wir sind noch unentschlossen«, erklärte Latosius. »Diese Behauptungen können wir nicht einfach so hinnehmen. Es muss ein intensives Verhör stattfinden.«
Der Adlige hob die Augenbrauen. »Habe ich etwas anderes gesagt?«
Er schnippte mit den Fingern, und die Wachen ergriffen Malfurion an den Armen und zogen ihn auf den Sockel zu.
»Jetzt möchte ich das Vertrauen testen, das ich meinem neuen Zauberer schenke. Illidan, wir müssen die ganze Wahrheit erfahren, wie unangenehm dir das auch erscheinen mag. Ich vertraue darauf, dass du beweisen wirst, dass alles, was dein Bruder sagt, der Wahrheit entspricht.«
Der Nachtelf mit dem Zopf schluckte hart und blickte auf einen Punkt hinter Malfurion. »Ich vertraue den Worten meines Bruders, aber für die Person in der Robe kann ich nicht die Hände ins Feuer legen, Milord.«
Illidan wollte verhindern, dass sein Bruder Schaden durch seine Kräfte nahm, deshalb konzentrierte er sich auf einen der Fremden. Malfurion war froh über diese Besorgnis, aber es gefiel ihm nicht, Rhonin oder Brox an seiner Stelle leiden zu sehen.
»Lord Kommandant, das ist absurd!« Der ältere Zauberer marschierte zum Sockel und sah Illidan ablehnend an. »Dieser ungenehmigte Magier ist der Bruder eines Gefangenen. Seinem Verhör ist nicht zu trauen!« Er wandte sich Malfurion zu. Seine silbernen Augen starrten den jungen Nachtelf drohend an. »Die Gesetze, die zu Beginn unserer Zivilisation niedergeschrieben wurden, sehen vor, dass alle magischen Angelegenheiten unter die Verantwortung der Mondgarde fallen und dass sie das Recht hat, sämtliche Verhöre zu führen.«
Er ging bis auf Armeslänge auf den Gefangenen zu. Malfurion versuchte, seine Angst nicht zu zeigen. Die körperlichen Misshandlungen, die ihn in Black Rook Hold erwarteten, hoffte er durch seine Druidenausbildung zu überstehen, aber ein Zauberer, der in seinen Geist eindrang, stellte eine wesentlich größere Bedrohung dar. Eine solche Befragung würde nicht seinen Körper verletzen, aber dafür vielleicht sein Gehirn dermaßen in Mitleidenschaft ziehen, dass er sich nie wieder erholte.
Illidan sprang von der Erhöhung. »Milord, ich werde meinen Bruder verhören!«
Malfurion wusste nicht, was sein Zwilling vorhatte, nahm jedoch an, dass Illidan weitaus vorsichtiger zu Werke gehen würde als die Mondgarde, der es nur um schnelle Antworten ging. Malfurion blickte zu Lord Ravencrest und hoffte, dass der Adlige Illidans Angebot akzeptieren würde.
Doch der Herr von Black Rook Hold lehnte sich nur in seinem Stuhl zurück. »Dem Gesetz soll Genüge getan werden. Er gehört Euch, Mondgarde … aber nur, wenn Ihr die Befragung hier und jetzt durchführt.«
»Wir erklären uns einverstanden.«
»Bedenkt bei Eurem Vorgehen, dass er vielleicht die Wahrheit sagt.«
Malfurion nahm an, dass Lord Ravencrest nicht noch mehr unternehmen würde, um Illidans Zwillingsbruder zu schützen. Schließlich musste der bärtige Kommandant in erster Linie für den Schutz des Reiches sorgen. Und wenn das einen Nachtelf das Leben oder den Verstand kostete, musste dieses Opfer eben erbracht werden.
»Wir werden die Wahrheit finden.« Mehr sagte der Zauberer nicht. Den Soldaten befahl er: »Haltet seinen Kopf fest.«
Eine der Rüstung tragenden Gestalten brachte Malfurion für die Mondgarde in Position. Der Zauberer in seiner Robe streckte die Arme aus und berührte die Schläfen des sich windenden Gefangenen mit den Zeigefingern.
Ein Schock durchfuhr Malfurion, und er war sicher, dass er schrie. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, alte Erinnerungen stiegen ungebeten an die Oberfläche. Jede Einzelne wurde zurückgeworfen, während sich eine scharfe Klaue immer tiefer in seinen Geist grub.
Wehre dich nicht!, befahl eine kalte Stimme, die Latosius gehören musste. Gib mir deine Geheimnisse preis, und alles wird leicht.
Malfurion wollte gehorchen, aber er wusste nicht wie. Er dachte an die Geschichte, die er der Versammlung bereits erzählt hatte und versuchte sie anzubieten. Azsharas mögliche Beteiligung wollte er noch verschweigen. Man hätte ihm nur noch weniger geglaubt, hätte er diesen Verdacht ausgesprochen.
Dann, so plötzlich, wie die Klaue in sein Gehirn gegriffen hatte, verschwand sie auch wieder. Sie zog sich nicht zurück, weder langsam noch schnell. Sie verschwand einfach.
Malfurions Beine gaben unter ihm nach. Er wäre zusammengebrochen, hätten die Wachen ihn nicht gestützt.
Nach und nach hörte er die Rufe, manche wutentbrannt, andere ungläubig. Eine der herausragendsten Stimmen gehörte dem älteren Mondgardisten. »Das ist unglaublich!«, rief ein anderer. »Doch nicht die Königin!«
»Niemals!«
Also hatte er doch seine tiefste Befürchtung preisgegeben. Malfurion verfluchte seinen schwachen Geist. Das Verhör hatte kaum begonnen, und schon hatte er vor sich selbst und als Cenarius’ Schüler versagt …
»Es sind die Hochgeborenen! Sie müssen dahinterstecken. Das ist Xavius’ Schuld!«, behauptete eine andere Stimme.
»Er hat seinem eigenen Volk Schande angetan!«, stimmte die nächste zu.
Worüber sprachen sie? Obwohl Malfurions Geist noch nicht wieder ganz klar war, spürte er, dass etwas mit dieser gebrüllten Unterhaltung nicht stimmte. Die Sprecher waren zu laut, reagierten zu aufgebracht auf seine bloße Annahme. Er war doch nur ein Nachtelf ohne hohen Rang. Wieso sorgte sein unbewiesener Verdacht bereits für einen solchen Ausbruch von Hysterie?
»Lasst mich zu ihm«, sagte eine Stimme. Malfurion spürte, wie die Wachen ihn an jemanden übergaben, der ihn vorsichtig auf den Boden sinken ließ.
Hände umfassten sein Gesicht und hoben es an. Malfurions verschwommener Blick erkannte seinen Bruder.
»Warum hast du nicht sofort nachgegeben?«, seufzte Illidan. »Zwei Stunden. Ist dir dein Verstand geblieben?«
»Zwei – Stunden?«
Illidan atmete erleichtert auf, als er die Antwort hörte. »Gepriesen sei Elune. Nachdem du den Blödsinn über die Königin erzählt hast, wollte der alte Narr alles noch Vorhandene aus deinem Kopf herausreißen. Wenn sein Zauber nicht plötzlich fehlgeschlagen wäre, hätte er vielleicht nichts von deinem Verstand übrig gelassen. Sie haben den Verlust ihrer Brüder nicht vergessen. Sie geben dir die Schuld dafür.«