Doch Xavius hatte nicht vor, eine solche Katastrophe zuzulassen. Er erwartete auch keine Probleme. Was sollte hier im Herzen des Palasts schon geschehen?
Eine ernste Gestalt betrat die Kammer und sah sich ungeduldig um. »Wo issst Mannoroth?«, zischte der Herr der Hunde.
»Er kommandiert natürlich die Armee«, antwortete der Nachtelf. »Er reinigt Zin-Azshari von den Unvollkommenen.«
Etwas an Hakkars Gesichtsausdruck verstörte Xavius für einen Moment. Es schien fast so, als habe der Berater etwas gesagt, das der Herr der Hunde amüsant fand. Um was es sich dabei handeln sollte, wusste der Nachtelf jedoch nicht.
Im Portal erschienen vier weitere Feiwachen. Einer der noch bedrohlicher wirkenden Wächter der Verdammnis stand in ihrer Nähe. Er bellte etwas in einer unbekannten Sprache, und die Neuankömmlinge marschierten sofort aus der Kammer.
Die Himmelsarmee bewegte sich mit erstaunlicher militärischer Disziplin. Sie gehorchten allen Befehlen sofort und waren sich ständig ihrer Pflicht bewusst. Selbst Hauptmann Varo’thens Elitegarde verblasste im Vergleich dazu – zumindest war das Xavius’ Eindruck.
»Wie laufen die Vorbereitungen für die Jagd?«, wandte sich der Berater an Hakkar.
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Herrn der Hunde. »Sssie laufen gut, Lord Nachtelf. Meine Hunde und die Feibestien, die sie begleiten, haben genaue Befehle erhalten. Mannoroth wird die bekommen, deren Gefangennahme er wünscht.«
Er drehte sich um und verließ den Raum. Zurück blieb ein merkwürdig zufriedener Lord Xavius. Obwohl er den Rang des Herrn der Hunde respektierte, sah er sich selbst doch eher auf einer Stufe mit dem jüngsten Gesandten des Erhabenen, mit Mannoroth.
Der Berater blickte erneut zu dem Zauber, den er mit geholfen hatte zu erschaffen. Nur wenige Schritte vom Portal entfernt hingen blaue, blinkende Knoten über dem Diagramm, das Mannoroth gezeichnet hatte. Sie waren die einzigen klar erkennbaren Teile des Zaubers. Mit seinen magischen Augen vermochte Xavius jedoch die komplizierten, pulsierenden Muster zu erkennen, die eine bunte und mächtige Verbindung magischer Kräfte darstellten. Darüber hatte er die Macht.
Und nicht nur darüber, sondern auch über das Schicksal seines eigenen Volkes … und das der ganzen Welt.
Der Tempel der Elune musste nicht vor der Katastrophe gewarnt werden, die über das Reich der Nachtelfen gekommen war. Persönlich hatte der Verlust der Quelle die Priesterinnen nicht beeinträchtigt, auch wenn sie natürlich die plötzliche Leere spürten. Als Bittsteller zu den verschiedenen Tempeln kamen und um Rat baten, schlossen sich die Priesterinnen im ganzen Reich zusammen und benutzten dabei Methoden, mit denen bereits Mutter Mond das Herz ihrer ersten Anhängerin berührt hatte. So diskutierten sie über ihre Ratschläge und entschlossen sich, die Nachtelfen zu einem Massengebet einzuladen, damit Elune ihnen Geborgenheit schenken konnte. Auch suchten sie mit ihren ureigenen Fähigkeiten nach der Quelle … aber ebenso wie die Mondgarde vermochten sie nicht zu ergründen, was geschehen war.
Obwohl die Priesterinnen noch immer über die Gaben ihrer Göttin verfügten, waren sie nicht sicher vor dem Horror, der bald darauf ausbrach. Als die Brennende Legion die Tempel der Hauptstadt überrannte, spürte man selbst weit entfernt in Suramar das Sterben der Schwestern und ihr grenzenloses Entsetzen, als die Horde sie gnadenlos hinmetzelte.
»Schwester?«, rief eine der anderen Priesterinnen Tyrande zu, als diese gerade Wasser für die Gläubigen bereit stellte. »Jemand möchte dich am Haupteingang sprechen.«
»Danke, Schwester.« Tyrande ging weiter und eilte zum Eingang. Sie nahm an, dass Illidan zurückgekehrt war, um sie zu sehen. Tyrande fürchtete sich vor einer Unterhaltung mit ihm und wusste nicht, was sie antworten würde, wenn er über eine mögliche Verbindung zwischen ihnen sprechen wollte.
Aber es war nicht Illidan, sondern jemand, denn sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
»Malfurion!« Tyrande dachte nicht nach, als sie ihre Arme um ihn legte und ihn fest umarmte.
Seine Wangen verdunkelten sich, und er flüsterte: »Es ist schön, dich zu sehen, Tyrande.«
Sie ließ ihn los. »Wieso bist du hier?« Eine plötzliche Angst stieg in ihr auf. »Broxigar? Was haben sie mit ihm –«
»Er ist bei mir.« Malfurion zeigte hinter sich, und Tyrande entdeckte den Orc in einer dunklen Nische nahe des Eingangs. Der monströse Krieger wirkte nervös, während er die vielen Nachtelfen im Auge behielt.
Sie sah sich um, entdeckte aber nur die Wachen des Tempels. »Malfurion! Welcher Wahnsinn hat dich hergeführt? Hast du dich nur in die Stadt geschlichen, um mich zu sehen?«
»Nein … wir wurden gefangen.«
»Aber …«
Er legte sanft einen Finger auf ihre Lippen und brachte sie zum Schweigen. »Diese Geschichte muss warten. Hast du von den schrecklichen Ereignissen in Zin-Azshari gehört?«
»Nur wenig … aber schon das war zu viel. Malfurion, du kannst dir die Panik in den Gedanken und den Seelen unserer Schwestern dort nicht vorstellen! Etwas Furchtbares …«
»Hör mir zu! Es dehnt sich bereits über die Hauptstadt aus. Das Schlimmste ist, dass die Mondgarde all dem hilflos gegenüber steht. Ein Zauber trennt sie von der Macht der Quelle.«
Sie nickte. »Das haben wir uns schon gedacht, aber was hat das mit deinem Kommen zu tun?«
»Wird die Kammer des Mondes gerade benutzt?«
Sie dachte nach. »Das geschah schon vor ein paar Stunden, aber so viele kamen, um sich Rat zu holen, dass die Hohepriesterin später stattdessen den großen Gebetsraum für sie geöffnet hat. Die Kammer des Mondes müsste jetzt wieder frei sein.«
»Gut. Wir müssen hinein.« Er nickte Brox zu, der daraufhin zu ihnen kam. Zu Tyrandes Überraschung trug der Orc sogar eine Axt.
»Ihr wart gefangen …«, wiederholte sie.
»Lord Ravencrest sah keinen Grund, uns weiter festzuhalten, so lange Brox bei mir bleibt.«
»Ich schulde euch viel«, sagte der breitschultrige Krieger. »Ich schulde euch mein Leben.«
»Du schuldest uns nichts«, antwortete Illidans Bruder. Zu Tyrande sagte er: »Bitte bring uns zur Kammer.«
Sie ließen sich von ihr durch den Tempel führen. Obwohl sich Brox so nahe wie möglich bei seinen Begleitern aufhielt, konnte er seine Abstammung vor den Nachtelfen, die sich im Inneren versammelt hatten, nicht verbergen. Viele sahen ihn entsetzt an, einige schrien sogar und zeigten auf den Orc, als trage er die Schuld an der Katastrophe.
Als sie die Kammer des Mondes erreichten, verstellten ihnen die Wachen den Weg. Die befehlshabende Frau war die, mit der Tyrande über Illidan gesprochen hatte.
»Schwester … zwar ist es üblich, allen den Zugang zum Tempel von Mutter Mond zu erlauben, aber diese Kreatur …«
»Sagt Elune, dass er nicht das gleiche Recht hat wie andere Gläubige?«
Die Wächterinnen sahen einander unschlüssig an. »Es gibt keine Niederschriften über die Rechte anderer Völker, aber …«
»Aber sind wir nicht alle Elunes Kinder? Hat er nicht das Recht, sich an uns zu wenden und alle Einrichtungen des Tempels zu nutzen?«
Darauf fand niemand eine Antwort. Schließlich winkte die Frau, die das Sagen hatte, sie einfach durch. »Verbergt ihn nur so gut es geht vor den anderen. Es herrscht schon genügend Aufregung.«
Tyrande nickte dankbar. »Ich verstehe.«
Als sie eintraten, entdeckten sie zwei betende Novizinnen. Tyrande ging zu ihnen und erklärte, weshalb sie den Raum für sich allein benötigten. Dabei zeigte sie auch auf den Orc. Dessen Anblick allein brachte die Schwestern schon dazu, die Kammer rasch zu verlassen.
Tyrande ging zurück zu Malfurion und fragte: »Was willst du hier?«
»Ich werde versuchen den Smaragdtraum zu träumen, Tyrande.«
Die Idee gefiel ihr nicht. »Du willst nach Zin-Azshari reisen?«
»Ja. Ich hoffe dort die Gründe für die Blockade der Quelle zu erfahren.«
Tyrande kannte ihn besser als er ahnte. »Du willst nicht nur die Ursache ergründen, Malfurion. Ich glaube, du willst etwas unternehmen.«