Statt zu antworten betrachtete er die Mitte der Kammer. »Das scheint die harmonischste Stelle zu sein.«
»Malfurion …«
»Ich muss mich sputen, Tyrande. Vergib mir.«
Zusammen mit Brox ging er zu der Stelle, die er ausgesucht hatte und setzte sich auf den Boden. Er schlug die Beine übereinander und blickte in den mondhellen Himmel.
Der Orc setzte sich auf die gegenüberliegende Seite, machte aber Platz, als Tyrande sich neben ihm niederließ. Malfurion sah sie fragend an. »Du musst nicht bleiben.«
»Wenn Mutter Mond mir irgendwie helfen kann, dich auf deiner Reise zu beschützen, werde ich das tun.«
Malfurion lächelte dankbar, wurde dann aber schnell wieder ernst. »Ich muss jetzt beginnen.«
Tyrande ergriff seine Hand, obwohl sie nicht wusste, weshalb sie das tat. Seine Augen blieben geschlossen, aber das Lächeln kehrte für einen Moment zurück.
Und dann spürte Tyrande, wie er sie verließ.
Es war ein hektisch improvisierter, verzweifelter Plan, von dem sich Lord Ravencrest – wenn Malfurion sich nicht irrte – nur wenig erwartete. Da die Mondgarde jedoch praktisch machtlos war, hatte er keinen Grund gesehen, dem vorlauten jungen Nachtelf diesen Versuch zu verbieten.
Malfurion konnte jetzt nur hoffen, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte.
Tyrandes Hand, ihre fühlbare Nähe, half ihm bei seinem Weg in die schlafartige Trance. Sie beruhigte Malfurion und löste die starke Spannung, die seit den Ereignissen der letzten Tage auf ihm lastete.
Ruhig griff er nach der Welt um ihn herum, nach den Bäumen, dem Fluss, den Steinen und anderem – so wie er es von Cenarius gelernt hatte.
Doch dieses Mal begrüßten ihn nicht die harmonischen Elemente der Natur, sondern blanker Aufruhr.
Die Welt war aus dem Gleichgewicht geraten. Der Wald wusste es, die Hügel wussten es, selbst der Himmel spürte die Veränderung. Ganz gleich, wohin Malfurion auch blickte, allenthalben spürte er den Misston, die Disharmonie, und zwar mit solcher Macht, dass der Nachtelf fast darin ertrunken wäre.
Dann aber gelang es, sich auf Tyrandes sachte Berührung zu konzentrieren, seine Kraft aus ihrer Stärke zu ziehen. Das Chaos schwand, wenn auch nicht völlig. Aber es konnte ihn nun nicht mehr übermannen.
Erneut tastete Malfurion nach den Geistern der Natur, berührte sie alle und ließ sie seine Ruhe spüren. Er verstand ihren Aufruhr und versprach, dass er in ihrem Sinne handeln würde. Im Gegenzug bat der Nachtelf sie um ihre Hilfe und erinnerte die Geister daran, dass sie und er das gleiche Ziel verfolgten: die Rückgewinnung des Gleichgewichts.
Das Chaos nahm weiter ab. So lange die Hochgeborenen den Quell blockierten, würde es nicht ganz behoben werden können, aber Malfurions Einsatz hatte zumindest einen Ansatz von Ordnung zurück gebracht.
Nachdem er das erledigt hatte, konnte er die Traumsphäre sicher betreten.
Er verhielt außerhalb seiner körperlichen Hülle und blickte auf seine Freunde hinab, vor allem auf Tyrande. Dieses Mal fiel es ihm leichter, die Bilder heranzuholen und die Realität auf die idyllische Landschaft zu projizieren. Brox und Tyrande tauchten unverzüglich auf … ebenso wie sein eigener Körper.
Zu seiner Überraschung entdeckte er eine Träne, die über Tyrandes Wange lief. Instinktiv wollte er sie wegwischen, aber sein Finger glitt durch sie hindurch. Trotzdem schien es, als könne die junge Priesterin seine Nähe spüren, denn sie wischte sich die Träne mit ihrer eigenen Hand nicht einfach weg, sondern berührte ihr Gesicht viele Herzschläge lang sanft, fast zärtlich.
Malfurion zwang sich, seinen Blick von ihr zu lösen und den Himmel zu betrachten. Er konzentrierte sich auf die Richtung, wo Zin-Azshari lag, und brach auf.
Der vertraute grünliche Schleier lag über allem. Malfurion konzentrierte sich erneut und projizierte Elemente der Realität in die Schattenwelt. Halb gehend und halb fliegend glitt er durch die Traumwelt und nahm Myriaden von Eindrücken wahr, die aus der wahren und der unterbewussten Welt stammten.
Während seiner Reise bemerkte er jedoch auch eine unerwartete Präsenz. Im ersten Moment zweifelte er an seinen Sinnen, aber bei genauerem Erspüren der Umgebung erhärtete sich sein Verdacht.
Shan’do?, fragte er.
Malfurion fühlte, wie sein Mentor seine Gedanken streifte. Der flüchtige Kontakt verriet ihm, dass Cenarius wohlauf war. Die letzten Feibestien waren tot, aber eine andere dringende Angelegenheit verlangte nach der Aufmerksamkeit des Halbgottes. Malfurion erkannte, dass der Herr des Waldes seinen Schüler im Smaragdtraum aufgespürt hatte und ihm nur vermitteln wollte, dass noch nicht alles verloren war.
Cenarius’ stumme Botschaft beruhigte Malfurion, und er zog weiter. Der grüne Schleier wurde dünner, und schon bald sah er die Welt so, als wäre er wahrhaftig ein Vogel, der durch die Lüfte schwebte. Hügel und Flüsse zogen rasch unter ihm vorbei, während er sich stärker auf sein Ziel konzentrierte.
Als er sich der Hauptstadt näherte, sah Malfurion den Schrecken erstmals persönlich.
Die Schilderungen des Boten mochten schon erschreckend gewesen sein, hatten aber den entsetzlichen Anblick, den die berühmte Stadt bot, dennoch nicht wirklichkeitsgetreu vermitteln können. Ein Großteil von Zin-Azshari war dem Erdboden gleich gemacht, als wäre ein gewaltiger Felsen immer und immer wieder darüber hinweg gerollt. Am Stadtrand stand kein einziges Gebäude mehr. Überall brannten Feuer, aber Malfurion sah nicht nur die roten Flammen, die ihm vertraut waren, sondern auch faulig grüne und tiefschwarze, die nicht von dieser Welt stammen konnten. Als Malfurion über sie hinweg flog, vermochte er, obwohl er sich in der Traumwelt aufhielt, ihre bösartige Hitze zu spüren.
Dann sah er zum ersten Mal die Dämonen.
Die Feibestien waren bereits schlimm, aber die Kreaturen, die ihnen folgten, jagten Schauer um Schauer über seinen Rücken, denn sie waren eindeutig intelligent. Trotz ihrer riesigen Hörner, ihrer teuflischen Gesichter und ihrer grotesken Körper, bewegten sie sich einheitlich und völlig auf ihr furchtbares Ziel ausgerichtet. Dies war keine geistlose Horde, sondern eine von Verstand geordnete Armee des Bösen.
Als er sich dem Palast näherte, sah er, dass immer neue Dämonen aus den Toren strömten.
Es überraschte ihn nicht, dass das große, erhabene Gebäude unangetastet geblieben war. Wie der Bote es gesagt hatte, standen noch immer Wächter auf den Mauern. Malfurion flog an einigen vorbei und bemerkte ein abnormes Vergnügen auf ihren Gesichtern. Ihre silbernen Augen waren mit roten Adern durchwoben, und einige sahen aus, als hätten sie sich den Dämonen am liebsten angeschlossen.
Angewidert wich Malfurion vor ihnen zurück. Sein Blick rückte etwas von dem Palast ab, und er sah, dass die Besitztümer der Hochgeborenen ebenfalls unversehrt waren. Einige Diener der Königin wechselten sogar zwischen den Gebäuden hin und her, als spiele sich überhaupt nichts Ungewöhnliches um sie herum ab.
Mit wachsendem Ekel flog Malfurion zum Turm. Wie schon zuvor spürte der Nachtelf die ungeheuren Kräfte, die der dunklen Quelle unter größten Anstrengungen entrissen wurden. Die Hochgeborenen mussten ihre Bemühungen mehr als verdoppelt haben. Wilde Stürme tobten über der Quelle, die Ausläufer reichten bis in die umkämpfte Stadt hinein.
Beim letzten Mal hatte er versucht den Turm dort zu betreten, wo der Zauber am Spürbarsten gewesen war. Malfurion ließ sich an der Mauer hinabsinken und fand einen Balkon. Der Nachtelf bewegte sich fast, als habe er einen Körper. Er schwebte dicht über dem Boden des Balkons in den Eingang hinein.
Zu seiner Überraschung hielt ihn nichts und niemand auf. Er hätte beinahe laut aufgelacht. Niemand hatte daran gedacht, die inneren Bereiche vor jemandem wie ihm zu schützen. Diese Arroganz der Hochgeborenen erlaubte es ihm nun, den Palast unbehelligt zu betreten.
Langsam schwebte Malfurion durch die Gänge und suchte nach einem Weg nach oben. Schließlich fand er die Haupttreppe und mit ihr mehr als ein Dutzend der gewaltigen, gehörnten Krieger, die er auch schon draußen gesehen hatte.