Malfurion wollte instinktiv zurückweichen und hoffen, dass sie ihn nicht entdeckten. Allerdings fand er sich nirgends ein geeignetes Versteck. Er bereitete sich auf ihren Angriff vor …
… und verfluchte seine Dummheit, als der erste Krieger achtlos an ihm vorbei marschierte.
Sie konnten seinen Geistkörper doch gar nicht sehen.
Er atmete auf und sah zu, wie die Gruppe hinter einer Biegung verschwand. Als der Letzte den Raum verlassen hatte, schwebte Malfurion langsam die Treppe hinauf.
Er passierte mehrere Kammern auf dem Weg nach oben, sah aber in keine hinein. Das, was Malfurion suchte, lag an der Spitze des hohen Turms und je eher er es erreichte, desto schneller konnte er die nächsten Schritte ersinnen.
Wie er genau vorgehen würde, wusste der Nachtelf noch nicht. Obwohl sich Malfurion der Druidenkunst verschrieben hatte, war er ein fast so guter Magier wie sein Bruder. In seinem augenblicklichen Zustand traute er sich zu, einen Zauber zu weben.
Nach einer Weile fand sich Malfurion plötzlich vor einer Barriere. Eine unsichtbare Kraft blockierte den Weg, vermutlich die gleiche, die ihn bei seinem ersten Versuch aufgehalten hatte. Vielleicht waren die Hochgeborenen doch nicht so nachlässig, wie er zunächst glaubte …
Entschlossen warf sich der Nachtelf mit aller Macht nach vorne. Er spürte, wie er gegen das unsichtbare Hindernis prallte, als wäre er gegen eine reale Wand gelaufen. Doch je mehr er sich dagegen stemmte, desto schwächer wurde der Widerstand, so als wäre die Barriere aus – Malfurion fiel hindurch.
Der Durchbruch erfolgte so abrupt, dass er völlig davon überrascht wurde. Er drehte sich um und versuchte die Barriere zu berühren, abzutasten, spürte aber nur noch ein sehr schwaches Kraftfeld. Entweder hatte seine Anstrengung das Hindernis beseitigt, oder es war so konstruiert, dass es nur das Eindringen, nicht aber das spätere Verlassen verhinderte.
Ein Stück weiter oben begegnete er zwei Wachen und sah eine schwere Tür, die zu dem Raum fuhren musste, in dem die Hochgeborenen arbeiteten. Als Malfurion sicher war, dass die Wächter ihn nicht sehen konnten, streckte er probeweise eine Hand nach der Tür aus.
Seine Finger glitten durch das Holz, als wäre sie nicht da. Der junge Nachtelf schluckte und trat ein.
Im ersten Moment fühlte er sich völlig orientierungslos, denn der Raum, in dem die Hochgeborenen ihre ebenso ehrgeizigen wie düsteren Pläne umsetzten, war wesentlich größer, als er gedacht hätte. Malfurions eigenes Zuhause hätte man mehrfach darin unterbringen können.
Und die Hochgeborenen benötigten so viel Raum auch durchaus, denn neben ihnen standen Dutzende der grotesken Krieger. Sie marschierten gerade auf die Tür zu, durch die Malfurion getreten war. Aus nächster Nähe entsetzten ihn ihre monströsen Gesichter noch mehr. Er fand keine Gnade darin, nicht einmal einen Hauch von Mitleid …
Er verdrängte diese Gedanken und schwebte zu den Hochgeborenen, studierte ihre Anstrengungen mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Die Hochgeborenen schufteten wie Wahnsinnige. Alle wirkten ausgehungert. Ihre einst makellosen Gewänder hingen an knochigen Körpern. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, doch sie alle starrten eindringlich und in fiebriger Erwartung auf das Resultat ihrer Mühen, eine pulsierende Wunde in der Wirklichkeit.
Malfurion schaute kurz ins Zentrum des Spalts und sah sofort wieder weg. Der flüchtige Blick hatte gereicht, um die monströse Natur dieses Risses und das darin lauernde absolut Böse zu erkennen. Es verwunderte ihn, dass die Hochgeborenen nicht in der Lage schienen zu begreifen, worauf sie sich hier eingelassen hatten.
Malfurion versuchte die jähe Furcht zu verdrängen. Er drehte sich um – und stand vor jemandem, der nur Lord Xavius, der Berater der Königin, sein konnte.
Malfurion schwebte wenige Zentimeter vor den verstörenden Augen des älteren Nachtelfs. Er hatte von den magischen Augen des Beraters gehört, der seine natürlichen mit voller Absicht gegen künstliche eingetauscht hatte. Rote Schlieren trieben über die schwarzen Pupillen, die beinahe so dunkel waren, wie das Urböse, das Malfurion in dem magischen Riss gespürt hatte.
Die Züge des Beraters waren so grimmig, dass der junge Nachtelf im ersten Moment glaubte, er sei entdeckt worden. Doch dem war nicht so. Nur wenig später trat Xavius vor und ging achtlos durch Malfurion hindurch auf die Hochgeborenen zu.
Malfurion erholte sich allmählich von der unerwarteten Begegnung. Die Mondgarde und Lord Ravencrest sahen vor allem in Lord Xavius den Schuldigen an dem schrecklichen Massaker. Nach einem Blick auf ihn zweifelte auch Malfurion kaum noch daran. Er hielt aber an seiner Meinung fest, dass die Königin genau wusste, was geschehen war und weiterhin geschah. Doch noch Beweisen dafür konnte er auch noch später Ausschau halten.
Entschlossen ging Malfurion auf das Diagramm zu, mittels dessen die Abschirmung aufrechterhalten wurde. Drei hochgeborene Zauberer umstanden es, schienen es aber nur zu überwachen, nicht zu stabilisieren. Er schwebte an ihnen vorbei, um sich mit den Details vertraut zu machen.
Es war ein meisterhaft konstruiertes Diagramm auf einem Niveau, das weit über allem lag, was Malfurion selbst zu schaffen vermochte. Trotzdem brauchte er nicht lange, um zu verstehen, wie er es beeinflussen, ja, sogar zerstören konnte.
Was natürlich voraussetzte, dass Malfurion überhaupt irgendetwas in dieser seiner Geistgestalt auszurichten vermochte.
Um seine Möglichkeiten zu testen, flüsterte er der Luft eine einfache Bitte zu. Sie hatte seine Lippen kaum verlassen, als eine schwache Brise die Haare im Nacken eines Zauberers bewegte.
Sein Erfolg begeisterte Malfurion. Wenn er das bewirken konnte, würde er auch etwas schaffen, das den Abschirmungszauber zerstörte. Mehr Vorarbeit benötigte die Mondgarde nicht.
Er starrte auf das Zentrum des magischen Labyrinths und konzentrierte sich auf seine schwächste Stelle.
»Was für ein törichter, törichter Versuch«, sagte eine kalte Stimme.
Malfurion sah über seine Schulter.
Lord Xavius starrte ihn an.
Ihn an.
Der Berater hielt einen schmalen weißen Kristall in der Hand. Seine Augen – Augen, die anscheinend auch Geistgestalten zu sehen vermochten – leuchteten auf.
Eine gewaltige Kraft zog Malfurion auf den Kristall zu. Er versuchte, zurückzuweichen, aber alle Versuche schlugen fehl. Bald füllte der Kristall sein gesamtes Blickfeld aus … und wurde zu seiner Welt.
Aus seinem winzigen, unglaublichen Gefängnis heraus betrachtete er wenig später das riesige, lächelnde Gesicht des älteren Nachtelfs.
»Mir ist da gerade ein interessanter Gedanke gekommen«, sagte Lord Xavius kühl bis ins Herz. »Wie lange mag dein Körper wohl ohne deinen Geist, der ihn verlassen hat, bestehen können, ehe er an dem Verlust zugrunde geht?« Als Malfurion nicht antwortete, hob der Berater die Schultern. »Aber das werden wir bald herausfinden, nicht wahr?«
Mit diesen Worten schob er den Kristall in seine Tasche und stürzte Malfurion in völlige Dunkelheit.
Sie erreichten das Gebiet, in dem Krasus den Elf zu finden hoffte. Er fragte sich nicht, woher er wusste, dass der Gesuchte hier in der Nähe lebte, nahm jedoch an, dass Nozdormu ihm diese Information während der Vision übermittelt hatte. Krasus dankte dem Aspekt dafür, dass er die Schwierigkeit einer solchen Suche erkannt hatte. Das ließ ihn auch hoffen, dass die Katastrophe aufzuhalten war und dass er und Rhonin nach Hause zurückkehren würden.
Vorausgesetzt natürlich, dass er Rhonin überhaupt fand.
Seine Schuldgefühle gegenüber seinem ehemaligen Schüler, den er noch nicht zu finden versucht hatte, wurden nur zum Teil durch die Tatsache aufgehoben, dass der, nach dem er suchte, laut einem der fünf Aspekte, eine wesentliche Rolle in Vergangenheit und Zukunft spielte. Sobald der Drachenmagier den mysteriösen Nachtelf aufgespürt hatte, würde er nach Rhonin suchen. Schließlich schuldete er dem Menschen mehr, als dieser ahnte.