»Es ist die Wahrheit, mein Junge … nichts als die schreckliche Wahrheit.«
Der Kommandant der Nachtelfen wandte sich ab und ritt zu seinen Kriegern. Lord Ravencrest zog seine Waffe und reckte sie hoch über den Kopf.
Die Lanzenträger spannten ihre Körper an. Hinter ihnen machten sich die Fußsoldaten bereit. Und noch weiter hinten legten Bogenschützen ihre Pfeile an.
Ravencrest brachte sein Schwert schwungvoll nach unten.
Hörnerschall erklang. Die Bogenschützen schossen.
Die Nachtelfen-Streitkräfte stürmten dem Feind entgegen. Ihre Nachtsäbel fauchten.
Kurz bevor die Lanzenträger den Gegner erreichten, schlugen die ersten Pfeile ein. Die vorderen Reihen der Dämonen, die sich von dem Angriff der Reiter hatten ablenken lassen, wurden schwer getroffen. Für einen Moment herrschte helles Chaos, genau wie Lord Ravencrest es erhofft hatte.
Aufgrund der Geschwindigkeit der Nachtsäbel wurden die Lanzen tief in den Gegner getrieben. Trotz ihrer Größe hoben die Waffen einige Feibestien in die Luft, durchbohrten nicht nur die Rüstung, sondern auch alles darunter Liegende.
Der entschlossen geführte Angriff stoppte den Vorstoß der Brennenden Legion für kurze Zeit. Nachtsäbel bissen und schlugen nach den Dämonen, die sich um sie herum drängten. Fußsoldaten folgten, füllten die Lücken aus und griffen alles an, was nicht ihr Wappen trug.
Die Lanzen waren jetzt nutzlos, also ließen die Reiter sie fallen und zogen stattdessen ihre Schwerter. Hinter ihnen schossen Bogenschützen Salve um Salve auf die Dämonen ab, die noch nicht ins Kampfgetümmel eingebunden waren.
Eine zweite Reihe Reiter, unter ihnen auch Lord Ravencrest selbst, hielt sich noch zurück. Der Adlige studierte die Schlacht und suchte nach Schwachstellen.
Rhonin und Illidan waren ebenfalls nicht untätig. Der Magier wob einen Zauber, der die Luft über einem Teil der Horde härtete, sodass der Himmel wortwörtlich auf sie nieder krachte. Illidan wiederholte seinen Tentakelspruch und erwürgte mehrere Dämonen gleichzeitig.
Die Mondgarde tat, was sie konnte und brachte zumindest ein wenig Unterstützung auf die Beine. Trotz aller Anstrengung konnte sie ihre unterbrochene Verbindung zur Quelle jedoch nicht ausgleichen. Das zeigte sich auch auf ihren frustrierten Gesichtern.
Dann schrie plötzlich einer der Nachtelfen auf und strauchelte. Seine Haut fiel wie Wasser von ihm ab. Als er den Boden berührte, war von ihm nur noch ein Skelett zu sehen, das in der Pfütze seines einstigen Fleisches zum Liegen kam. Die anderen Zauberer sahen den Toten verwirrt an, bis Latosius’ sie wieder an ihre Aufgabe erinnerte.
Rhonin suchte die Legion nach dem Ursprung des Zaubers ab. Seine Blicke fanden den Schuldigen schnell, eine düster aussehende Gestalt in den hinteren Reihen. Der Zauberer erinnerte an eine Feibestie, hatte jedoch einen langen Reptilienschwanz. Außerdem trug er eine rotschwarze Robe über seiner Rüstung, und die Augen, mit denen er das Schlachtfeld sondierte, verrieten hohe Intelligenz.
Rhonin war noch nie einem Eredar-Kriegszauberer begegnet, kannte sie aber aus Erzählungen. Sie waren nicht nur die Magier der Brennenden Legion, sondern auch ihre Offiziere und Strategen.
Doch der Kriegszauberer hatte einen Fehler begangen, denn offenbar nahm er an, die Mondgarde sei für die stärksten Zauber verantwortlich. Das verschaffte Rhonin den Vorteil, den er brauchte.
Er wartete ab, bis der Kriegszauberer einen neuen Zauber wob und freisetzte. Blitzschnell nahm er den dunklen Spruch auf und schleuderte ihn gegen seinen Schöpfer.
Dem Dämon quollen die Augen heraus, als seine Haut vom Körper zu tropfen begann. Sein Mund öffnete sich zu einem unmenschlichen Schrei – und sein Blick traf den des Zauberers.
Dann ging alles blitzschnell. Sein Mund öffnete sich immer weiter, weil es nichts mehr gab, das die Kiefer gehalten hätte. Einen kurzen Moment stand die fleischlose Gestalt noch aufrecht, dann brach sie zusammen und verschwand unter den über sie hinwegtrampelnden Feibestien.
Ohne einen Kommandanten brach in diesem Teil der Legion heillose Verwirrung aus. Die Nachtelfen drängten vorwärts. Die Reihen der Dämonen zeigten erste Lücken …
»Wir besiegen sie!«, rief ein junger Offizier neben Ravencrest.
Doch die Dämonenreihen schlossen sich ebenso schnell wieder, wie sie aufgerissen waren. Entschlossen drängten sie vor. Von hinten kamen Wächter der Verdammnis, die sie mit Peitschen antrieben. Feibestien versuchten, die Verteidigungslinien zu durchbrechen und die Zauberer zu erreichen.
Nachtelfen schrien, als zwei Infernale die Reiter angriffen und sie, ebenso wie ihre Tiere, zur Seite warfen. Eine Schneise entstand, in die sich die Dämonen mit Inbrunst warfen.
»Vorwärts!«, rief Ravencrest seinen Leuten zu. »Lasst nicht zu, dass sie unsere Linien durchbrechen!«
Er und die anderen Reiter griffen die monströsen Krieger an. Ravencrest trennte die Tentakel einer Feibestie ab und stieß ihr seine Klinge in den Schädel. Ein Nachtsäbel fiel über einen der Dämonensoldaten her und zerfetzte ihn mit seinen Klauen und Zähnen.
Die Lücke wurde kleiner … und schloss sich. Die Nachtelfen kehrten in die Formation zurück.
Obwohl sie jetzt wieder eine gerade Frontlinie bildeten, wurden die Verteidiger zurück gedrängt. Für jeden der entsetzlichen Krieger, den die Nachtelfen töteten, schienen zwei neue die Reihen der Horde aufzufüllen.
Rhonin fluchte, als er einen weiteren Zauber wirkte und der Brennenden Legion tödliche Blitze entgegenschleuderte. Obwohl seine Macht immer noch groß war, wusste er, dass er mit Unterstützung der Quelle weit mehr hätte ausrichten können. Er und Illidan unterstützten die Nachtelfen zwar mit ihrer Magie, aber sie konnten nicht überall sein. Illidan bemühte sich, so viele Dämonen wie möglich umzubringen, aber er war bereits erschöpft, und Rhonin ging es nur wenig besser.
Unter lautem Geschrei wurden die Nachtelfen zurück gedrängt. Feibestien schlugen Köpfe ein und zertrümmerten Rüstungen. Ihre Höllenhunde rissen Soldaten auseinander. Wächter der Verdammnis schwangen sich über dem Schlachtfeld in die Lüfte und stießen Waffen schwingend zwischen den Nachtelfen nieder. Infernale tauchten überall auf und regneten auf die Nachtelfen nieder, so wie deren Pfeile es kurz zuvor in ihren Reihen getan hatten.
Ein weiterer Zauberer der Mondgarde brüllte auf, weil eine Feibestie durchgebrochen war. Vier Soldaten gelang es, die Tentakel zu durchtrennen und ihre Klingen in die Brust der Bestie zu stoßen.
Eine weitere Salve verließ die Bögen der Schützen. Die Pfeile machten jedoch plötzlich kehrt und flogen zurück zu ihren Absendern. Viele waren klug genug, wegzulaufen, doch einige blickten den heranrasenden Pfeilen wie erstarrt entgegen. Sie starben, als die eigenen Geschosse ihre Kehlen und Oberkörper durchschlugen.
Rhonin suchte nach dem verantwortlichen Eredar-Kriegszauberer, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Er verfluchte erneut, dass er sich nicht an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten konnte und dass die Taten, zu denen er fähig war, offenbar nicht ausreichten.
Wir verlieren! Trotz aller bewiesenen Entschlossenheit benötigten die Soldaten die Unterstützung der Mondgarde, um den Kampf gegen die Dämonen zu gewinnen. Die Mondgarde ihrerseits brauchte die Verbindung zur Quelle.
In Black Rook Hold hatte Malfurion behauptet, er könne den Abschirmungszauber der Hochgeborenen möglicherweise zerstören. Aber das war bereits Tage her. Rhonin musste davon ausgehen, dass die Bemühungen des jungen Nachtelfs gescheitert waren … dass Malfurion bei dem Versuch vielleicht sogar ums Leben gekommen war.
»Sie brechen durch! Gleich überrennen sie uns!«, rief jemand.
Rhonin dachte nicht mehr an Malfurion. Jetzt gab es nur noch die Schlacht … die Schlacht und Vereesa. In Gedanken verabschiedete er sich zum vielleicht letzten Mal von ihr, dann konzentrierte er sich wieder auf die endlose Flut der Dämonen. Dabei wusste er, dass auch seine besten Zauber keine Wunder wirken konnten.