Es gab nur ein Dutzend Zellen im angrenzenden Raum. Der Offizier erwähnte jedoch, dass es tiefer unten noch eine ganze Anzahl weiterer gäbe. Sie nickte höflich und war ansonsten nur neugierig, was für ein Wesen sie wohl erwartete. Nach Brox hätte sie sich über einen weiteren Orc nicht gewundert, aber dazu passte Hauptmann Shadowsongs Reaktion nicht.
»Hier ist er.«
Die Priesterin hatte einen imposanten Krieger erwartet, aber die Gestalt in der Zelle war nicht größer als ein gewöhnlicher Nachtelf. Und sehr dünn. Unter der Kapuze der einfachen Robe sah sie ein hageres Gesicht, das fast zu einem Angehörigen ihres eigenen Volkes hätte gehören können. Es war allerdings überaus blass, fast schon geisterhaft, mit müden Augen. Die Ohren waren schmaler als bei einem Nachtelf.
»Er sieht beinahe aus wie einer von uns«, bemerkte sie.
»Wohl eher wie der Geist eines der Unsrigen«, korrigierte sie der Hauptmann.
Brox trat vor und wirkte beinahe wie hypnotisiert von der fremden Gestalt. »Elf?«
»Vielleicht …«, antwortete der Gefangene mit einer dunklen und befehlsgewohnten Stimme, die nicht zu seinem Aussehen passte. Er zeigte deutliches Interesse an dem Orc. »Und was macht ein Orc hier?«
Er wusste demzufolge, um wen es sich bei ihrem Begleiter handelte. Tyrande fand das mehr als interessant, zumal es in letzter Zeit so viele seltsame Besucher gegeben hatte.
Dann begann der Gefangene zu husten, und sie erinnerte sich an ihre Pflicht. Sie bestand darauf, dass Hauptmann Shadowsong die Tür für sie aufschloss.
Als sie sich der Matte näherte, auf der er lag, blickte die junge Priesterin erneut in sein Gesicht. Sie fand mehr darin, als sie auf den ersten Blick vermutet hätte. Eine Weisheit und Lebenserfahrung, die sie im Innersten aufwühlte. Irgendwie begriff Tyrande, dass sie einem sehr, sehr alten Wesen gegenüber stand, dessen Zustand nichts mit der langen Dauer seines Lebens zu tun hatte.
»Du bist talentiert«, flüsterte er. »Das hatte ich gehofft.«
»Was … fehlt dir?«
Er schenkte ihr ein väterliches Lächeln. »Nichts, was du heilen könntest. Ich habe den Hauptmann überredet, nach dir zu suchen, weil die Zeit knapp wird.«
»Ihr habt mich zu nichts überredet!«, protestierte Jarod Shadowsong. »Es war meine freie Entscheidung.«
»Wenn du das sagst …« Aber die Augen des Gefangenen verrieten Tyrande, dass er anderer Meinung war. Dann sah er Brox an. »Mit dir hätte ich hier nicht gerechnet, und das bereitet mir Sorge. Du solltest hier nicht sein.«
Der Orc grunzte. »Das hat der andere auch gesagt.«
»Der andere? Welcher andere?«
»Der, dessen Haare aus Feuer sind, der, der sagte …« Brox unterbrach sich und murmelte nach einem misstrauischen Blick auf den Hauptmann: »Der, der dies hier für die Vergangenheit hielt.«
Zu Tyrandes Überraschung setzte sich der Gefangene auf. Hauptmann Shadowsong machte einen Schritt nach vorn, aber die Priesterin winkte ihn zurück.
»Du hast Rhonin gesehen?«
»Ihr kennst ihn?«, fragte Tyrande.
»Wir sind zusammen hierher gekommen … ich dachte, er säße in der Falle … aber anderswo.«
»Auf der Lichtung des Cenarius«, fügte sie hinzu.
Er lachte. »Dank sei dem Schicksal, dem Zufall oder Nozdormu – wer auch immer die Ereignisse in Fluss gebracht hat. Ja, genau dort … aber woher kennst du ihn?«
»Ich bin dort gewesen … mit meinen Freunden.«
»Warst du das?« Das hagere Gesicht kam näher. »Mit Freunden?«
Tyrande war nicht sicher, was sie von ihm halten sollte. Er wusste viele Dinge, von denen gewöhnliche Nachtelfen keine Ahnung hatten. Davon war sie überzeugt. »Bevor wir weitermachen, möchte ich deinen Namen wissen.«
»Vergib meine schlechten Manieren! Du kannst mich … Krasus nennen.«
Jetzt reagierte Brox. »Krasus? Rhonin hat von Euch erzählt!« Der Orc fiel auf ein Knie nieder. »Ältester, ich bin Broxigar … dies ist die Schamanin Tyrande.«
Krasus fürchte die Stirn. »Offenbar hat Rhonin etwas viel geplaudert … und sich noch mehr eingemischt.«
Die Novizin stand auf und wandte sich an den Hauptmann. »Ich möchte ihn mit zum Tempel nehmen. Dort kann man sich besser um ihn kümmern.«
»Das geht nicht! Wenn er entkommen sollte –«
»Ich gebe Euch mein Wort, dass das nicht geschehen wird. Außerdem habt Ihr selbst gesagt, wie wichtig seine Unversehrtheit ist. Schließlich müsst Ihr ihn Lord Ravencrest vorführen …«
Der Offizier der Wache zögerte. Tyrande lächelte ihn an.
»Nun gut … aber ich muss Euch dorthin begleiten.«
»Natürlich.«
Sie drehte sich um und half Krasus, sich zu erheben. Brox unterstützte ihn von der anderen Seite. Aus den Augenwinkeln bemerkte Tyrande, dass der Gefangene versuchte, ein zufriedenes Lächeln zu verbergen.
»Freut Euch etwas?«
»Ja, zum ersten Mal seit meiner ungewollten Ankunft. Es gibt tatsächlich noch Hoffnung.«
Er erklärte nicht, was er meinte, und sie hakte nicht nach. Mit ihrer Hilfe verließ er das Hauptquartier der Stadtwache. Tyrande war sicher, dass er zumindest in einer Hinsicht nichts vortäuschte: Er war tatsächlich sehr schwach, auch wenn sie die natürliche Autorität spürte, die er ausstrahlte.
Jarod Shadowsong blieb hinter ihnen, als sie zum Tempel zurückkehrten. Erneut reichte das Auftauchen des Orcs aus, um sich den Weg zu bahnen.
Tyrande befürchtete, dass die Wachen und die Hohepriesterinnen Probleme bereiten würden, aber auch sie schienen Krasus’ Autorität zu spüren. Die Hohepriesterinnen verneigten sich sogar vor ihm, obwohl sie vielleicht selbst nicht den Grund dafür kannten.
»Elune hat gut gewählt«, bemerkte Krasus, als sie sich dem Wohnbereich näherten. »Das wusste ich sofort, als ich dich sah.«
Ihr Gesicht verdunkelte sich bei seiner Bemerkung, aber nicht, weil sie sich zu Krasus hingezogen fühlte. Tyrande hatte den Eindruck, dass sie ein Kompliment von jemandem erhalten hatte, der mindestens so wichtig wie die Hohepriesterin war.
Sie wollte ihn in einen separaten Raum bringen, betrat jedoch aus Unbedacht den, in dem Malfurion lag. Im letzten Moment wollte Tyrande zurückweichen.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Krasus.
»Nein … dieser Raum wird nur für einen kranken Freund benutzt …«
Sie wollte weiter sprechen, aber der Gefangene löste sich aus ihrem Griff und blickte auf Malfurions reglosen Körper.
»Schicksal, Zufall oder Nozdormu, genau so ist es!«, keuchte er. »Was fehlt ihm? Rasch!«
»Ich …« Wie sollte sie es erklären?
»Er durchwanderte den Smaragdtraum«, antwortete Brox. »Er ist daraus nicht zurückgekehrt, Ältester.«
»Nicht zurückgekehrt … wonach hat er gesucht?«
Der Orc erzählte es ihm. Tyrande hätte nicht geglaubt, dass Krasus’ Gesicht noch blasser werden könne, doch genau das geschah. »Ausgerechnet dieser Ort … aber das ergibt leider Sinn. Wenn ich es nur gewusst hätte, bevor ich von dort aufbrach!«
»Ihr wart in Zin-Azshari?«, stieß Tyrande hervor.
»Ich war in den Ruinen der Stadt, aber ich bin hierher gekommen, um nach deinem Freund zu suchen.« Er betrachtete den starren Körper. »Doch wenn er hier bereits seit acht Nächten liegt, könnte es bereits zu spät sein … für uns alle.«
22
Ein Nachtelf schrie. Brustpanzer und Brustkorb wurden von einer Dämonenklinge gespalten. Ein anderer, der neben ihm stand, erhielt nicht einmal mehr Gelegenheit zu einem letzten Schrei, denn der Streitkolben einer Feiwache zertrümmerte ihm den Schädel.
Überall starben die Verteidiger, und Rhonin hatte bisher nichts unternehmen können, was an dieser schrecklichen Tatsache etwas geändert hätte. Trotz Lord Ravencrests mutigem Einsatz in den vorderen Reihen wurden die Nachtelfen regelrecht abgeschlachtet. Die Brennende Legion gönnte ihnen keine Verschnaufpause, sondern griff unablässig an.
Obwohl der Zauberer wusste, dass er und die anderen sterben würden, kämpfte er weiter.
Was sollte er sonst auch tun?