Hauptmann Varo’then kniete vor Azshara. Sein Helm klemmte unter seinem Arm. »Ihr habt mich gerufen, meine glorreiche Königin?«
Zwei Dienerinnen kämmten Azsharas seidiges Haar. Sie taten dies mehrmals täglich, damit es weich und vollkommen blieb. Während sie diese Aufgabe verrichteten, genoss Azshara die exotischen Düfte, die Händler ihr kürzlich gebracht hatten.
»Ja, Hauptmann. Ich habe mich gefragt, was das für ein Lärm ist, den man von oben hört. Es klingt, als käme er aus dem Turm. Gibt es Probleme, über die man mich nicht informiert hat?«
Der Nachtelf straffte die Schultern. »Keine, von denen ich wüsste, Licht der tausend Monde. Vielleicht sind es die Vorbereitungen für Sargeras’ Ankunft.«
»Glaubt Ihr?« Ihre Augen leuchteten. »Wie wundervoll!« Sie scheuchte ihn mit einer Geste davon. »In diesem Fall sollte ich mich vorbereiten! Wir werden sicherlich ein wunderschönes Ereignis erleben.«
»Wie Ihr meint, Ruhm unseres Volkes. Wie Ihr meint.« Der Hauptmann erhob sich und setzte seinen Helm auf. »Soll ich, um sicher zu gehen, nachsehen?«
»Nein, ich bin sicher, dass Ihr Recht habt. Stört bloß Lord Xavius nicht.« Azshara roch an einem anderen Gefäß. Es gefiel ihr, wie der daraus entsteigende Duft ihr Blut in Wallung versetzte. Vielleicht würde sie diesen für ihr Zusammentreffen mit dem Gott wählen. »Mein geschätzter Berater hat schon alles im Griff …«
Die obere Hälfte der Turmkammer existierte nicht mehr. Die Blitze, die der Himmel schickte, hatten sie fortgerissen und sie mitsamt des Daches in die dunkle Quelle stürzen lassen.
Einige große Steine waren in den Raum gefallen, hatten zwei Hochgeborene getötet und den Rest auseinander getrieben. Das Schilddiagramm und das Portal standen noch – aber beides war stark geschwächt worden.
Heulende Winde rissen an den Wesen im Innern. Ein Zauberer, der durch die Explosion ans Ende des Raumes geschleudert worden war, versuchte aufzustehen. Der Wind verfing sich in seiner Robe und drückte ihn nach hinten. Kreischend folgte er dem bereits vorausgeeilten Teil des Turmes hinab in die Tiefe.
Starker Regen prasselte auf die Überlebenden. Die Hochgeborenen sanken auf die Knie und versuchten verzweifelt, ihren Zauber aufrecht zu erhalten. Der Sturm war jedoch so stark, dass es ihnen kaum gelang, gegen ihn anzukommen.
Nur zwei Gestalten wurden von den Elementen nicht berührt. Die eine war Malfurion, der in seinem Geistkörper immun gegen Wind und Regen war. Die andere war Lord Xavius, der nicht nur von der Macht, die er aus der Quelle zog, beschützt wurde, sondern auch von dem Bösen aus dem dunklen Portal.
»Beeindruckend!«, rief der Berater. »Letzten Endes jedoch sinnlos, mein junger Freund! Du kannst deine Kraft nur aus dem Quell ziehen … während ich über die Macht eines Gottes gebiete!«
Seine Bemerkungen riefen bei Malfurion Genugtuung hervor. Der Lord-Berater hatte keine Ahnung, gegen was er gerade kämpfte. Er glaubte, lediglich einem talentierten Zauberer gegenüberzustehen.
»Nein, Milord«, rief der junge Nachtelf zurück. »Ihr irrt Euch. Für Euch gibt es nur die Macht der Quelle und die angebliche Stärke eines Dämons, der behauptet, ein Gott zu sein! Ich hingegen … nun, die Macht der Welt ist mein Verbündeter!«
Xavius musterte ihn herablassend. »Ich habe keine Zeit mehr für dein Gefasel …«
Malfurion spürte, wie er mehr Kraft als jemals zuvor aus der Quelle erhielt. Für einen Moment fürchtete sich der Druide, aber dann beruhigte ihn seine eigene Stärke.
»Ihr müsst aufgehalten werden«, erklärte er dem Berater. »Du und das Ding, dem du dienst, ihr müsst aufgehalten werden!«
Malfurion würde nie erfahren, welchen Zauber Lord Xavius wirken wollte. Der Berater vollendete ihn nicht, denn die Elemente selbst griffen ihn nun an. Blitze bohrten sich immer wieder in Xavius, verbrannten ihn von innen und außen. Seine Haut wurde schwarz und platzte auf. Aber er stand immer noch.
Der Regen wurde zur Sintflut und stürzte auf Malfurions Gegner herab. Xavius’ Gestalt begann vor den Augen des jungen Nachtelfen zu zerlaufen. Fleisch und Muskeln rutschten von seinen Knochen – und dennoch versuchte der Berater noch immer, nach ihm zu greifen.
Dann donnerte es so laut, dass der Turm erneut erschüttert wurde und ein weiterer Hochgeborener in die dunklen Wasser der Quelle stürzte.
Malfurion spürte, wie selbst er zu zittern begann.
So laut war der Donner, dass Lord Xavius, Berater der Königin und Höchster aller Hochgeborenen … zerbarst.
Er heulte wie eine höllische Feibestie, bevor er explodierte. Das Heulen setzte sich sogar noch fort, als seine Teile sich bereits in der Luft verstreuten. Die Staubwolke, in der sich die Überreste des Beraters befanden, wurde von einem wütenden Wind empor geschleudert.
Jetzt verließen auch die letzten Hochgeborenen ihre Posten. Sie flohen vor dem Zorn des Gegners, der gerade ihren gefürchteten Anführer getötet hatte. Malfurion ließ sie ziehen, denn er wusste, dass er, obwohl über alle Maßen erschöpft, noch eine letzte wichtige Aufgabe erfüllen musste.
Lord Xavius konnte das Schilddiagramm nicht länger schützen, und schon wenig später brach es zusammen. Eine einfache Geste des jungen Druiden entfernte den Zauber des Bösen und erhöhte die Chance auf ein Überleben seines Volkes. Er hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.
Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit dem Portal zu.
Es war nur noch ein Abglanz dessen, was es noch kurz zuvor dargestellt hatte, nur mehr ein kleines Loch in der Wirklichkeit. Malfurion starrte es an. Ihm war klar, dass er die Welt nicht auf ewig vor dem Bösen darin beschützen konnte … aber wenigstens eine Atempause wollte er ihr verschaffen.
Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus, hörte er die gefürchtete Stimme. Ich werde deine Welt verschlingen – wie so viele vor ihr …
»Wir werden dir sauer aufstoßen«, gab Malfurion grimmig zurück.
Ein weiteres Mal entfesselte er die Elemente.
Der Regen beseitigte das Muster, über dem das Tor schwebte. Blitze trafen ins Innere des Loches und zwangen das Böse darin, sich weiter zurückzuziehen. Der Wind umtoste den geschwächten Zauber mit der Intensität eines Wirbelsturms.
Und die Erde … die Erde erbebte und zerstörte das letzte Fundament des hohen Turms.
Da Malfurion keine körperliche Gestalt besaß, hatte er von dem einstürzenden Gebäude nichts zu fürchten. Trotz seiner zunehmenden Erschöpfung beobachtete er den Einsturz genau, achtete darauf, dass nichts, aber auch gar nichts übrig blieb.
Der Boden neigte sich. Werkzeuge der dunklen Magie und Steine des Gemäuers rutschten ans untere Ende. Ein schweres Ächzen begleitete den Untergang.
Der Turm fiel.
Gleichzeitig stürzte auch das Portal in sich zusammen, schrumpfte rasch.
Malfurion wurde überrascht, als er plötzlich darauf zu gezogen wurde. Er spürte, wie sein Geistkörper von einer starken Macht gepackt und in Richtung der schwindenden Öffnung gerissen wurde.
Du gehörst mir … hörte er eine ferne, Hass triefende Stimme.
Der Nachtelf kämpfte, drängte seinen Körper weiter weg von dem Riss. Staub wurde durch ihn hindurch ins Innere des schwindenden Portals gerissen. Trümmer folgten.
Der Kraftaufwand wurde immer unerträglicher. Näher und näher rutschte der Geist des Nachtelfs dem alles verschlingenden Moloch entgegen …
Malfurion!, rief Tyrande. Malfurion!
Er hielt sich an ihrer Stimme fest, als wäre es ein Seil. Unter ihm fielen die Reste des Turms in den dunklen Abgrund der Quelle der Ewigkeit. Nur Malfurion und das bösartige, kleine Loch blieben zurück.
Tyrande!, antwortete er stumm. Er schloss die Augen und versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, zu ihr zu gelangen.
Und eine Stimme, die er nicht zuordnen konnte, sagte: Ich habe dich!